Der Reisebericht eines Geistlichen über Indien und China
„Seine Vornehmheit besteht darin, lange Fingernägel zu besitzen. Manche Leute lassen ihre Daumennägel so lange wachsen, dass sie damit ihre Hände umschließen können. Die Schönheit der Frauen aber besteht darin, kleine Füße zu haben; daher haben die Mütter die Gewohnheit, ihren Töchtern nach der Geburt die Füße einzubinden, die sie ihnen dann nicht mehr wachsen lassen.“ (nach: Die Reise des seligen Odorich von Pordenone nach Indien und China (1314/18-1330). Übersetzt, eingeleitet und erläutert v. Folker Reichert, Heidelberg 1987, Kap. XXXIV, 2.)
Dieser exemplarische Ausschnitt aus dem Reisebericht von Odorich von Pordenone beschreibt einen Teil seiner Erfahrungen auf seiner Reise nach Indien und China. Reiseberichte sind eine überaus wichtige Quellengattung, die es möglich macht, auch die Weltsicht eines Reisenden zu betrachten und entschlüsseln. Wie verhalten sich fremde Völker? Wie sehen die Landschaften unbekannter Länder aus? Inwiefern unterscheidet sich die fremde Kultur von der eigenen? Diese und viele weitere Fragen lassen sich anhand von Reiseberichten beantworten. Doch wie jede andere Quellengattung auch müssen die Reiseberichte mit Vorsicht betrachtet werden. Dieser Artikel setzt sich mit den Problemen und den Chancen auseinander, die die Interpretation von Reiseberichten mit sich bringt. Exemplarisch für die Entstehung eines Berichts, die Reise und ihre Beschwerlichkeiten, die Beobachtungen und Abenteuer sowie die Reisenden selbst, steht hier der Reisebericht von Odorich von Pordenone.