Sonntag, 17. April 2016

Die Wikinger - Seekrieger des Nordens

Denkt man heute an die Wikinger, kommt einem sofort das Bild des Kriegers mit gehörntem Helm und Bart in den Sinn, der mit einem charakteristisch aussehenden, länglichen Boot mit seinen rot-weiß gestreiften Segeln auf Raubzüge fährt und seine Opfer in Angst und Schrecken versetzt. Der Mythos von den wilden Wikingern wurde bereits im Mittelalter von christlichen Autoren geprägt, die mit den heidnischen Kulten und ihrer andersartigen Lebensweise nicht viel anzufangen wussten. Doch steckt hinter „den Wikingern“ (der Name bedeutet übrigens übersetzt „Seeräuber“) weit mehr als das. Dieser Artikel soll sich nach einem kurzen Überblick über die Herkunft und die Voraussetzungen für die Ausbreitung der Wikinger mit Aspekten beschäftigen, die ansonsten eher nicht im Mittelpunkt stehen. Dazu gehört beispielsweise die Rolle der Frau im Sozialgefüge der skandinavischen Gesellschaft des 8.-11. Jahrhunderts, aber auch die Kultur und Religion der Wikinger.

Darstellung von Wikingerschiffen auf de Teppich von Bayeux (11. Jahrhundert), https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a2/Bayeux_Tapestry_1.jpg.


Als Beginn der Wikingerperiode wird häufig der Angriff skandinavischer Krieger auf die Klosterinsel Lindisfarne an der englischen Nordküste im Jahre 793 gesehen, während ihr Ende schließlich mit der Normannischen Eroberung 1066 eingeläutet wird. Doch was trieb die Wikinger dazu, ihre angestammten Gebiete in Dänemark, Schweden und Norwegen zu verlassen und, wie es den Zeitgenossen vorgekommen sein muss, plündernd Europa heimzusuchen und was waren die Voraussetzungen für die durchaus erfolgreiche Expansion der Skandinavier?

Diese Menschen geben sich unverschämt den Ausschweifungen hin, leben in Gemeinschaft mit mehreren Frauen und zeugen durch diesen schamlosen und gesetzlosen Verkehr eine zahllose Nachkommenschaft. Wenn sie aufgewachsen sind, streiten die Jungen gewaltsam mit ihren Vätern und Großvätern oder untereinander um Besitz, und wenn sie zu zahlreich werden, und sich nicht mehr ausreichendes Land für ihren Lebensunterhalt erwerben können, wird nach altem Brauch durch das Los eine große Gruppe junger Menschen ermittelt, welche zu fremden Völkern und Reichen getrieben wird, wo sie durch Kampf Länder erwerben können und wo sie dauerhaft in Frieden leben können.“ (Dudo von St. Quentin, De moribus et actis primorum Normanniae ducum, Lib I,1, zitiert nach: Simek, Rudolf, Die Wikinger, S. 14)

So beschreibt der normannische Chronist Dudo von St. Quentin (um 965-1043) im 11. Jahrhundert die skandinavische Bevölkerung. In dieser Beschreibung schwingt als Ursache für die Expansion der Wikinger eine Überbevölkerung aufgrund der zahlreichen Nachkommenschaft mit. Jedoch gibt es keinen tatsächlichen Hinweis darauf, dass die Bevölkerung zu stark wuchs und Teile von ihr auf der Suche nach neuem Lebensraum Skandinavien verließen. Vielmehr spielten der Erwerb von Kenntnissen, technischer Fortschritt, soziale Verhältnisse und nicht zuletzt die schlichte Gier nach Land, Reichtum und Ruhm eine entscheidende Rolle beim Aufbruch der Wikinger. So war es ihnen im Laufe der Zeit gelungen, seetüchtige Segelschiffe zu bauen und Kenntnisse zur praktischen Navigation auf See zu erwerben. Eine soziale Ursache für die Expansion könnte man in der in Skandinavien üblichen Primogenitur (Erbrecht des Erstgeborenen. Mehr darüber könnt ihr hier erfahren) sehen, die (nicht anders als auch im Rest Europas) zu sozialen Spannungen führte. Ebenfalls hatte sich eine zunehmend funktionierende Sozialstruktur entwickelt, sodass sich mehrere Wikinger als eine Art Investorengemeinschaft zusammenschlossen, Schiffe bauten, einen Raubzug durchführten und anschließend die gemachte Beute untereinander aufteilten. Ein äußerer Faktor, der den Skandinaviern bei ihren Beutezügen gerade recht kam, war zudem die politische Instabilität im Frankenreich nach der Absetzung Ludwigs des Frommen (778-840), durch die keine wirksame Verteidigung wie noch unter Karl dem Großen (747/748-814) mehr möglich war.

So gelang es den Wikingern, sich von Nordeuropa aus in die drei übrigen Himmelsrichtungen auszubreiten, indem sie in den Sommermonaten auf Raubzüge gingen, die sie von Basislagern, die meistens auf Inseln lagen, organisierten. Zunächst kehrten sie im Winter noch in ihre angestammten Gebiete zurück, seit Beginn des 9. Jahrhunderts gibt es jedoch auch Belege dafür, dass sie in diesen Lagern überwinterten, sich dauerhafte Siedlungen aus ihnen entwickelten und sie anstelle von reinen Plünderungsunternehmen zunehmend Eroberungskriege führten. So entstanden auch die drei skandinavischen Reiche Dublin in Irland, Danelag in England und die Normandie im Frankenreich.
Doch täte man den Wikingern unrecht, sie nur auf ihre Raubzüge zu reduzieren und ihre Kultur und Gebräuche außen vor zu lassen. Einen wichtigen Aspekt des sozialen Lebens, der recht gut in das gängige Wikingerbild passt, stellen Gastmähler dar, bei denen, ähnlich wie auch im christlichen Teil Europas, eine feste Sitzordnung eingehalten wurde, die sich am Rang der Teilnehmer orientierte (mehr dazu gibt es in unserem Artikel zum Ritual des Sitzens). Gegessen wurde mit Fingern und Messern, es gab Fleisch, Fisch, Brot und Getreidebrei. Eine wichtige Komponente stellte auch das Trinken dar: Es gab überwiegend selbstgebrautes, starkes Bier, das aus Hörnern getrunken wurde. Seltener gab es importierten Wein, Beerenweine oder auch Met. Hierbei war die Trinkfestigkeit der Teilnehmer ein wichtiger Bestandteil des sozialen Ansehens. So wird in Egils Saga, einer zwischen 1220 und 1240 entstandenen Isländersaga, ein Trinkwettstreit bei einem Gastmahl beschrieben:
Dann wurde Bier hereingetragen, und das war zu Hause gebraut und sehr stark. Bald gab es ein Einzeltrinken, und da sollte immer ein Mann allein jedesmal ein Trinkhorn leeren; dabei gab man besonders acht auf Egil und seine Gefährten, sie sollten so kräftig wie möglich trinken. Egil trank zuerst eine lange Weile fest und hielt sich nicht zurück […] Da waren auch alle, die drinnen waren, sehr betrunken; aber bei jedem vollen Horn, das Armod trank, sagte er: ‚Ich trinke dir zu, Egil‘, und die Hausleute tranken Egils Fahrtgenossen zu […] Egil sagte da seinen Fahrtgenossen, sie sollten nicht mehr weiter trinken, er trank aber für sie alles, was sie nicht auf andere Weise beseitigen konnten. Egil fand nun, daß er es so nicht mehr bewältigen würde; da stand er auf und ging quer durch den Raum, dorthin, wo Armod saß […] Dann erbrach sie Egil gewaltig und spie Armod alles ins Gesicht, in die Augen und in die Nase und in den Mund, es rann ihm über die Bruch herunter und Armod verlor fast den Atem, und als er wieder Luft bekam, mußte auch er gewaltig speien. […] Egil sagte: ‚Man soll mir deshalb auch keine Vorwürfe machen; ich mache es so, wie es auch der Bauer macht – er hat auch mit aller Kraft gespieen nicht weniger als ich.‘ Dann ging Egil zu seinem Platz und setzte sich nieder und bat, ihm zu trinken zu geben.
Zur weiteren Unterhaltung neben dem Trinken wurden Prahl- und Spottverse, aber auch Gedichte und Rätsel vorgetragen, es gab Ringkämpfe, Wettessen und auch Brett- und Würfelspiele erfreuten sich großer Beliebtheit. 

Mag diese Beschreibung auch unser heutiges Bild vom ausschweifenden Wikingerleben nähren, so glich der Alltag der Wikinger vielmehr einem Überlebenskampf. Schon kleinste Klimaschwankungen konnten zu Hungersnöten führen und kehrten die Männer nicht von ihren Raubzügen zurück, so mussten die Frauen sehen, wie sie das Überleben der zurückgebliebenen Familie alleine sicherten.
Dies macht deutlich, welche wichtige Rolle die oft vergessene, weibliche Bevölkerung Skandinaviens in der Wikingerzeit spielte. Zwar waren sie zunächst an Beutezügen beteiligt (erst ab Mitte des 9. Jahrhunderts sind auch wikingische Frauen in Quellen belegt, die mit ihren Männern im Frankenreich überwinterten), doch bestellten sie auf eigene Faust während der Abwesenheit ihrer Männer in den Sommermonaten das Land und bewirtschafteten die Höfe. Deshalb war die wikingische Gesellschaft in hohem Maße von der Arbeit der Frauen abhängig. Eine soziale Absicherung konnte allein durch zahlreiche Nachkommenschaft erreicht werden, weshalb es keinesfalls unüblich war, dass ein Mann mehrere Frauen hatte. Trotzdem konnte auch diese Lebensweise aufgrund der hohen Kindersterblichkeit keine völlige Sicherheit bieten. Sowohl aus muslimischen als auch christlichen Quellen über das Leben der Skandinavier kann man eine gewisse Empörung über die Unabhängigkeit der Frauen und die lockerere Sexualmoral der Wikinger herauslesen. Dennoch ist es insgesamt schwer, völlige Klarheit über die Rolle der Frau in der skandinavischen Gesellschaft in der Wikingerzeit zu gewinnen, da die Quellen kaum eindeutige Schlüsse zulassen.
Wie bereits angeklungen, wirkte das wikingische Leben auf Christen und Muslime eher befremdlich. Selbiges gilt auch für die heidnischen Kulte der Skandinavier. So gab es, anders als im Christentum, keine zentralen Heiligtümer oder Wallfahrtsorte, sondern der Kult war stark dezentral organisiert und von Traditionen innerhalb von Familienverbänden geprägt. Daraus folgte auch, dass verschiedene Götter an unterschiedlichen Orten einen anderen Stellenwert hatten. Deshalb ist es schwierig, über die Wichtigkeit von zweitrangigen Göttern und Halbgöttern Aussagen zu treffen. Die Hauptgottheiten waren die auch heute noch bekannten nordischen Götter Odin, Thor, Freyr und die Göttin Freya, doch auch ihr Stellenwert unterschied sich von Region zu Region. Vergleicht man das wikingische Jenseits mit dem christlichen Bild vom Paradies, so handelte es sich bei „Walhall“ um einen weniger erfreulichen Ort: Ursprünglich bezeichnete dieser Name ein von Gefallenen übersätes Schlachtfeld. Erst später, nach Kontakten mit dem Christentum, wandelte sich diese Vorstellung dahingehend, dass die Verstorbenen von Walküren in Odins Hallen gebracht werden. Generell wurde der Tod wohl als Aufbruch an neue Ufer betrachtet, da als Grabbeigaben häufig Schiffe oder schiffsförmige Anordnungen von Steinen gefunden wurden und auch Feuerbestattungen auf See zum Einsatz kamen. Anders als im christlichen Glauben erlangte ein Mensch nicht durch den Glauben an Gott selbst, sondern durch die Weitergabe seines Namens und durch das Fortleben seines Ruhmes Unsterblichkeit. Daher rührt auch der noch heute gängige Brauch, einem Kind den Namen eines der Großeltern zu geben. 

Öffentlich wurde Religion vor allem in Form von rituellen Schlachtungen männlicher Tiere und anschließenden Speiseopfern ausgelebt. Auch Trankopfer, die häufig von einem Trinkspruch auf Verstorbene begleitet wurden, waren gängig. Menschenopfer gab es zu wikingischer Zeit wohl nicht mehr, auch wenn es durchaus Praxis war, wohlhabenden Verstorbenen Sklaven als Grabbeigabe mitzugeben. Neben den Göttern spielten auch Tote im religiösen Leben eine wichtige Rolle. So war der Glaube an Untote und Wiedergänger weit verbreitet, die zu Mittwinter ihr Unwesen treiben sollten.

Erste Kontakte mit dem Christentum, vor allem über England, Irland und das Frankenreich, führten zunehmend zu einem Transfer religiöser Praktiken, der jedoch vor allem in wikingische Richtung verlief, da das Christentum dogmatisch bereits recht gefestigt war. Dennoch geht beispielsweise der Termin unseres Weihnachtsfestes auf die skandinavischen Julfeiern zurück (noch heute ist Jul beispielsweise auf Schwedisch das Wort für „Weihnachten“). Erste Bemühungen zur Missionierung der Skandinavier gab es bereits in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts, doch sollte es noch einmal gut 100 Jahre dauern, bis die Wikinger christianisiert waren, wobei sich, wie bereits gezeigt, zahlreiche Traditionen und Gebräuche auch auf die neue Religion übertragen ließen.

Zum Weiterlesen:
Capelle, Thorsten, Die Wikinger. Kultur und Kunstgeschichte, Darmstadt 1986.
Simek, Rudolf, Die Wikinger, München 2009 (5. Auflage).

1 Kommentar:

  1. Ich weiß, der Artikel ist schon ein wenig älter, trotzdem: eine kleine Korrektur muss ich anbringen.
    Auch wenn Weihnachten in Skandinavien auch heute noch "Jul" heißt, haben die Wikinger doch recht wenig mit dem Termin unseres Weihnachtsfestes zu tun.
    Dass die Geburt Jesu am 25.12. gefeiert wird, ist schon mindestens seit der Spätantike so.
    Im Chronograph von 354 findet sich in Kapitel 8, einer Auflistung von Konsuln und ihrer Regierungszeit folgender Eintrag:
    "Hoc cons. dominus Iesus Christus natus est VIII kal. Ian. d. Ven. luna xv."
    8 Tage vor den Kalenden des Januars, das kommt doch ziemlich gut hin, oder?

    Hinzu kommt ein weiterer Grund (und der führt uns wieder zu den Wikingern). Nach julianischem Kalender ist die Wintersonnenwende am 25. Dezember (heute 21./22. Dezember). Dieser Tag ist in so ziemlich allen Religionen mit großer Bedeutung aufgeladen, geht es doch um das Licht, das sich endlich wieder gegen die Dunkelheit durchzusetzen beginnt.

    Für die Christen war es daher nur plausibel den Geburtstag ihres Erlösers auf dieses Datum zu legen. Auch konnte man den Heiden mit ihrem Sol invictus, Mithras, wem auch immer, etwas entgegensetzen. Die feierten am 25.12. nämlich auch Geburtstag.

    Übrigens legten die Christen das Fest der Geburt Johannes' des Täufers, des "Vorläufers" Jesu auf den Tag der Sommersonnenwende, was einem Ausspruch Johannes' in Bezug auf Jesus entsprechen sollte:
    „Er muss wachsen, ich aber muss kleiner werden.“ (Joh 3,30)

    Lange Rede, kurzer Sinn: Die Christen hatten sich schon lange bevor sie mit den Wikingern in Kontakt kamen, Gedanken um den Weihnachtstermin gemacht. Der korreliert zwar mit dem Julfest, eine Kausalität kann aber ausgeschlossen werden.

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