Denkt man heute an die Wikinger, kommt einem sofort das Bild des
Kriegers mit gehörntem Helm und Bart in den Sinn, der mit einem
charakteristisch aussehenden, länglichen Boot mit seinen rot-weiß gestreiften
Segeln auf Raubzüge fährt und seine Opfer in Angst und Schrecken versetzt. Der
Mythos von den wilden Wikingern wurde bereits im Mittelalter von christlichen
Autoren geprägt, die mit den heidnischen Kulten und ihrer andersartigen
Lebensweise nicht viel anzufangen wussten. Doch steckt hinter „den Wikingern“
(der Name bedeutet übrigens übersetzt „Seeräuber“) weit mehr als das. Dieser
Artikel soll sich nach einem kurzen Überblick über die Herkunft und die
Voraussetzungen für die Ausbreitung der Wikinger mit Aspekten beschäftigen, die
ansonsten eher nicht im Mittelpunkt stehen. Dazu gehört beispielsweise die
Rolle der Frau im Sozialgefüge der skandinavischen Gesellschaft des 8.-11.
Jahrhunderts, aber auch die Kultur und Religion der Wikinger.
Darstellung von Wikingerschiffen auf de Teppich von Bayeux (11. Jahrhundert), https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a2/Bayeux_Tapestry_1.jpg. |
Als Beginn der Wikingerperiode
wird häufig der Angriff skandinavischer Krieger auf die Klosterinsel
Lindisfarne an der englischen Nordküste im Jahre 793 gesehen, während ihr Ende
schließlich mit der Normannischen Eroberung 1066 eingeläutet wird. Doch was
trieb die Wikinger dazu, ihre angestammten Gebiete in Dänemark, Schweden und
Norwegen zu verlassen und, wie es den Zeitgenossen vorgekommen sein muss,
plündernd Europa heimzusuchen und was waren die Voraussetzungen für die
durchaus erfolgreiche Expansion der Skandinavier?
„Diese Menschen geben sich unverschämt den Ausschweifungen hin, leben in
Gemeinschaft mit mehreren Frauen und zeugen durch diesen schamlosen und
gesetzlosen Verkehr eine zahllose Nachkommenschaft. Wenn sie aufgewachsen sind,
streiten die Jungen gewaltsam mit ihren Vätern und Großvätern oder
untereinander um Besitz, und wenn sie zu zahlreich werden, und sich nicht mehr
ausreichendes Land für ihren Lebensunterhalt erwerben können, wird nach altem
Brauch durch das Los eine große Gruppe junger Menschen ermittelt, welche zu
fremden Völkern und Reichen getrieben wird, wo sie durch Kampf Länder erwerben
können und wo sie dauerhaft in Frieden leben können.“ (Dudo von St.
Quentin, De moribus et actis primorum
Normanniae ducum, Lib I,1, zitiert nach: Simek, Rudolf, Die Wikinger, S.
14)
So beschreibt der
normannische Chronist Dudo von St. Quentin (um 965-1043) im 11. Jahrhundert die
skandinavische Bevölkerung. In dieser Beschreibung schwingt als Ursache für die
Expansion der Wikinger eine Überbevölkerung aufgrund der zahlreichen
Nachkommenschaft mit. Jedoch gibt es keinen tatsächlichen Hinweis darauf, dass
die Bevölkerung zu stark wuchs und Teile von ihr auf der Suche nach neuem Lebensraum
Skandinavien verließen. Vielmehr spielten der Erwerb von Kenntnissen,
technischer Fortschritt, soziale Verhältnisse und nicht zuletzt die schlichte
Gier nach Land, Reichtum und Ruhm eine entscheidende Rolle beim Aufbruch der
Wikinger. So war es ihnen im Laufe der Zeit gelungen, seetüchtige Segelschiffe
zu bauen und Kenntnisse zur praktischen Navigation auf See zu erwerben. Eine
soziale Ursache für die Expansion könnte man in der in Skandinavien üblichen
Primogenitur (Erbrecht des Erstgeborenen. Mehr darüber könnt ihr hier erfahren)
sehen, die (nicht anders als auch im Rest Europas) zu sozialen Spannungen führte.
Ebenfalls hatte sich eine zunehmend funktionierende Sozialstruktur entwickelt, sodass
sich mehrere Wikinger als eine Art Investorengemeinschaft zusammenschlossen,
Schiffe bauten, einen Raubzug durchführten und anschließend die gemachte Beute
untereinander aufteilten. Ein äußerer Faktor, der den Skandinaviern bei ihren
Beutezügen gerade recht kam, war zudem die politische Instabilität im
Frankenreich nach der Absetzung Ludwigs des Frommen (778-840), durch die keine
wirksame Verteidigung wie noch unter Karl dem Großen (747/748-814) mehr möglich
war.
So gelang es den
Wikingern, sich von Nordeuropa aus in die drei übrigen Himmelsrichtungen
auszubreiten, indem sie in den Sommermonaten auf Raubzüge gingen, die sie von
Basislagern, die meistens auf Inseln lagen, organisierten. Zunächst kehrten sie
im Winter noch in ihre angestammten Gebiete zurück, seit Beginn des 9.
Jahrhunderts gibt es jedoch auch Belege dafür, dass sie in diesen Lagern überwinterten,
sich dauerhafte Siedlungen aus ihnen entwickelten und sie anstelle von reinen
Plünderungsunternehmen zunehmend Eroberungskriege führten. So entstanden auch
die drei skandinavischen Reiche Dublin in Irland, Danelag in England und die
Normandie im Frankenreich.
Doch täte man den
Wikingern unrecht, sie nur auf ihre Raubzüge zu reduzieren und ihre Kultur und
Gebräuche außen vor zu lassen. Einen wichtigen Aspekt des sozialen Lebens, der
recht gut in das gängige Wikingerbild passt, stellen Gastmähler dar, bei denen,
ähnlich wie auch im christlichen Teil Europas, eine feste Sitzordnung
eingehalten wurde, die sich am Rang der Teilnehmer orientierte (mehr dazu gibt es in unserem Artikel zum Ritual des Sitzens).
Gegessen wurde mit Fingern und Messern, es gab Fleisch, Fisch, Brot und
Getreidebrei. Eine wichtige Komponente stellte auch das Trinken dar: Es gab
überwiegend selbstgebrautes, starkes Bier, das aus Hörnern getrunken wurde. Seltener
gab es importierten Wein, Beerenweine oder auch Met. Hierbei war die
Trinkfestigkeit der Teilnehmer ein wichtiger Bestandteil des sozialen Ansehens.
So wird in Egils Saga, einer zwischen 1220 und 1240 entstandenen Isländersaga, ein
Trinkwettstreit bei einem Gastmahl beschrieben:
„Dann wurde Bier hereingetragen, und das war
zu Hause gebraut und sehr stark. Bald gab es ein Einzeltrinken, und da sollte
immer ein Mann allein jedesmal ein Trinkhorn leeren; dabei gab man besonders
acht auf Egil und seine Gefährten, sie sollten so kräftig wie möglich trinken.
Egil trank zuerst eine lange Weile fest und hielt sich nicht zurück […] Da waren auch alle, die drinnen waren, sehr
betrunken; aber bei jedem vollen Horn, das Armod trank, sagte er: ‚Ich trinke
dir zu, Egil‘, und die Hausleute tranken Egils Fahrtgenossen zu […] Egil sagte da seinen Fahrtgenossen, sie
sollten nicht mehr weiter trinken, er trank aber für sie alles, was sie nicht
auf andere Weise beseitigen konnten. Egil fand nun, daß er es so nicht mehr
bewältigen würde; da stand er auf und ging quer durch den Raum, dorthin, wo Armod
saß […] Dann erbrach sie Egil
gewaltig und spie Armod alles ins Gesicht, in die Augen und in die Nase und in
den Mund, es rann ihm über die Bruch herunter und Armod verlor fast den Atem,
und als er wieder Luft bekam, mußte auch er gewaltig speien. […] Egil sagte: ‚Man soll mir deshalb auch keine
Vorwürfe machen; ich mache es so, wie es auch der Bauer macht – er hat auch mit
aller Kraft gespieen nicht weniger als ich.‘ Dann ging Egil zu seinem Platz und
setzte sich nieder und bat, ihm zu trinken zu geben.“
Zur
weiteren Unterhaltung neben dem Trinken wurden Prahl- und Spottverse, aber auch
Gedichte und Rätsel vorgetragen, es gab Ringkämpfe, Wettessen und auch Brett-
und Würfelspiele erfreuten sich großer Beliebtheit.
Mag diese Beschreibung
auch unser heutiges Bild vom ausschweifenden Wikingerleben nähren, so glich der
Alltag der Wikinger vielmehr einem Überlebenskampf. Schon kleinste
Klimaschwankungen konnten zu Hungersnöten führen und kehrten die Männer nicht
von ihren Raubzügen zurück, so mussten die Frauen sehen, wie sie das Überleben
der zurückgebliebenen Familie alleine sicherten.
Dies macht deutlich,
welche wichtige Rolle die oft vergessene, weibliche Bevölkerung Skandinaviens
in der Wikingerzeit spielte. Zwar waren sie zunächst an Beutezügen beteiligt
(erst ab Mitte des 9. Jahrhunderts sind auch wikingische Frauen in Quellen
belegt, die mit ihren Männern im Frankenreich überwinterten), doch bestellten
sie auf eigene Faust während der Abwesenheit ihrer Männer in den Sommermonaten
das Land und bewirtschafteten die Höfe. Deshalb war die wikingische
Gesellschaft in hohem Maße von der Arbeit der Frauen abhängig. Eine soziale
Absicherung konnte allein durch zahlreiche Nachkommenschaft erreicht werden,
weshalb es keinesfalls unüblich war, dass ein Mann mehrere Frauen hatte. Trotzdem
konnte auch diese Lebensweise aufgrund der hohen Kindersterblichkeit keine
völlige Sicherheit bieten. Sowohl aus muslimischen als auch christlichen
Quellen über das Leben der Skandinavier kann man eine gewisse Empörung über die
Unabhängigkeit der Frauen und die lockerere Sexualmoral der Wikinger
herauslesen. Dennoch ist es insgesamt schwer, völlige Klarheit über die Rolle
der Frau in der skandinavischen Gesellschaft in der Wikingerzeit zu gewinnen,
da die Quellen kaum eindeutige Schlüsse zulassen.
Wie bereits angeklungen,
wirkte das wikingische Leben auf Christen und Muslime eher befremdlich.
Selbiges gilt auch für die heidnischen Kulte der Skandinavier. So gab es,
anders als im Christentum, keine zentralen Heiligtümer oder Wallfahrtsorte,
sondern der Kult war stark dezentral organisiert und von Traditionen innerhalb
von Familienverbänden geprägt. Daraus folgte auch, dass verschiedene Götter an
unterschiedlichen Orten einen anderen Stellenwert hatten. Deshalb ist es
schwierig, über die Wichtigkeit von zweitrangigen Göttern und Halbgöttern
Aussagen zu treffen. Die Hauptgottheiten waren die auch heute noch bekannten
nordischen Götter Odin, Thor, Freyr und die Göttin Freya, doch auch ihr
Stellenwert unterschied sich von Region zu Region. Vergleicht man das
wikingische Jenseits mit dem christlichen Bild vom Paradies, so handelte es
sich bei „Walhall“ um einen weniger erfreulichen Ort: Ursprünglich bezeichnete
dieser Name ein von Gefallenen übersätes Schlachtfeld. Erst später, nach
Kontakten mit dem Christentum, wandelte sich diese Vorstellung dahingehend,
dass die Verstorbenen von Walküren in Odins Hallen gebracht werden. Generell
wurde der Tod wohl als Aufbruch an neue Ufer betrachtet, da als Grabbeigaben
häufig Schiffe oder schiffsförmige Anordnungen von Steinen gefunden wurden und
auch Feuerbestattungen auf See zum Einsatz kamen. Anders als im christlichen
Glauben erlangte ein Mensch nicht durch den Glauben an Gott selbst, sondern
durch die Weitergabe seines Namens und durch das Fortleben seines Ruhmes
Unsterblichkeit. Daher rührt auch der noch heute gängige Brauch, einem Kind den
Namen eines der Großeltern zu geben.
Öffentlich wurde
Religion vor allem in Form von rituellen Schlachtungen männlicher Tiere und
anschließenden Speiseopfern ausgelebt. Auch Trankopfer, die häufig von einem
Trinkspruch auf Verstorbene begleitet wurden, waren gängig. Menschenopfer gab
es zu wikingischer Zeit wohl nicht mehr, auch wenn es durchaus Praxis war,
wohlhabenden Verstorbenen Sklaven als Grabbeigabe mitzugeben. Neben den Göttern
spielten auch Tote im religiösen Leben eine wichtige Rolle. So war der Glaube
an Untote und Wiedergänger weit verbreitet, die zu Mittwinter ihr Unwesen
treiben sollten.
Erste Kontakte mit dem
Christentum, vor allem über England, Irland und das Frankenreich, führten
zunehmend zu einem Transfer religiöser Praktiken, der jedoch vor allem in
wikingische Richtung verlief, da das Christentum dogmatisch bereits recht
gefestigt war. Dennoch geht beispielsweise der Termin unseres Weihnachtsfestes
auf die skandinavischen Julfeiern zurück (noch heute ist Jul beispielsweise auf Schwedisch das Wort für „Weihnachten“).
Erste Bemühungen zur Missionierung der Skandinavier gab es bereits in der
ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts, doch sollte es noch einmal gut 100 Jahre
dauern, bis die Wikinger christianisiert waren, wobei sich, wie bereits
gezeigt, zahlreiche Traditionen und Gebräuche auch auf die neue Religion
übertragen ließen.
Zum Weiterlesen:
Capelle, Thorsten, Die Wikinger. Kultur und Kunstgeschichte, Darmstadt 1986.
Simek, Rudolf, Die Wikinger, München 2009 (5. Auflage).
Ich weiß, der Artikel ist schon ein wenig älter, trotzdem: eine kleine Korrektur muss ich anbringen.
AntwortenLöschenAuch wenn Weihnachten in Skandinavien auch heute noch "Jul" heißt, haben die Wikinger doch recht wenig mit dem Termin unseres Weihnachtsfestes zu tun.
Dass die Geburt Jesu am 25.12. gefeiert wird, ist schon mindestens seit der Spätantike so.
Im Chronograph von 354 findet sich in Kapitel 8, einer Auflistung von Konsuln und ihrer Regierungszeit folgender Eintrag:
"Hoc cons. dominus Iesus Christus natus est VIII kal. Ian. d. Ven. luna xv."
8 Tage vor den Kalenden des Januars, das kommt doch ziemlich gut hin, oder?
Hinzu kommt ein weiterer Grund (und der führt uns wieder zu den Wikingern). Nach julianischem Kalender ist die Wintersonnenwende am 25. Dezember (heute 21./22. Dezember). Dieser Tag ist in so ziemlich allen Religionen mit großer Bedeutung aufgeladen, geht es doch um das Licht, das sich endlich wieder gegen die Dunkelheit durchzusetzen beginnt.
Für die Christen war es daher nur plausibel den Geburtstag ihres Erlösers auf dieses Datum zu legen. Auch konnte man den Heiden mit ihrem Sol invictus, Mithras, wem auch immer, etwas entgegensetzen. Die feierten am 25.12. nämlich auch Geburtstag.
Übrigens legten die Christen das Fest der Geburt Johannes' des Täufers, des "Vorläufers" Jesu auf den Tag der Sommersonnenwende, was einem Ausspruch Johannes' in Bezug auf Jesus entsprechen sollte:
„Er muss wachsen, ich aber muss kleiner werden.“ (Joh 3,30)
Lange Rede, kurzer Sinn: Die Christen hatten sich schon lange bevor sie mit den Wikingern in Kontakt kamen, Gedanken um den Weihnachtstermin gemacht. Der korreliert zwar mit dem Julfest, eine Kausalität kann aber ausgeschlossen werden.