Wohl vermutlich jeder hat schon einmal entweder in
Erzählungen, in der Schule, in Geschichtsbüchern, in historischen Romanen oder
bei der Beschäftigung mit mittelalterlichen Sagen von jenem bunt gekleideten
Mann gehört, der im 13. Jahrhundert Flöte spielend die niedersächsische Stadt
Hameln von einer Rattenplage befreit haben soll. Dass der Kern dieser Sage aber
vielmehr auf den Auszug bzw. die magische Entführung von 130 Kindern aus der
Stadt Hameln zurückgeht, dürfte dabei nur den wenigsten bekannt sein. In diesem
kurz!-Artikel soll dargestellt werden, wie sich die Hamelner Sage im Laufe der
Jahrhunderte formte und wie aus einer männlichen Sagengestalt, die mit ihrer
silbernen Flöte Kinder anlockte, ein Rattenfänger und Kindesentführer wurde.
Als der Hamelner Lateinschulrektor Samuel Erich 1654 in
seinem Exodus Hamelensis ein Glasfenster
der Hamelner Marktkirche beschrieb, bemühte er sich auch darum, die Inschrift
des sich mittlerweile in einem schlechten Zustand befindenden Glasbildes zu
rekonstruieren und untersuchte damit die älteste Quelle der Hamelner Sage. Während
das um 1300 entstandene Glasfenster einen farbprächtig gekleideten Mann zeige,
der umgeben sei von Kindern, weise die Inschrift nur sehr fragmentarisch auf
das sagenhafte Geschehen in Hameln hin und lasse daher eine Rekonstruktion der
Geschehnisse nicht zu. Hierüber gibt jedoch eine Lüneburger Handschrift
Aufschluss, die vermutlich in der ersten Hälfe des 15. Jahrhunderts entstand.
Auf der letzten Seite des Kodex’, in dem eigentlich naturwissenschaftliche und
philosophische Themen behandelt werden, befindet sich eine handschriftliche
lateinische Notiz, die übersetzt Folgendes ausführt:
„Zu vermelden ist ein höchst seltenes Wunderzeichen,
das sich in der Stadt Hameln [...]
im Jahre des Herrn 1284 gerade am Tage des Johannes und Paulus ereignete.
Ein Jüngling von 30 Jahren, schön und überaus wohl gekleidet, [...]
trat über die Brücke und durch das Wesertor (in die Stadt) ein. Auf einer
silbernen Flöte von wundersamer Form begann er sodann durch die ganze Stadt hin
zu pfeifen. Und alle Kinder, die diese Flöte hörten, an Zahl etwa 130, folgten
ihm zum Ostertore hinaus zur sogenannten Kalvarien- und Gerichtsstätte. Dort
verschwanden und entwichen sie, daß niemand aufspüren konnte, wo eines von
ihnen geblieben war. [...] Dieses habe ich in einem alten Buche
gefunden. Und die Mutter des Herrn Dekans Johann von Lüde sah die Kinder
fortziehen.“ (zitiert
nach: Spanuth, S. 16)
Kopie der Rattenfängerdarstellung auf dem Glasbild in der Hamelner Marktkirche (https://de.wikipedia.org/wiki/Rattenfänger_von_Hameln#/media/File:Pied_piper.jpg) |
Diese Ausführungen in der Lüneburger Handschrift, die noch
heute historisch als äußerst authentisch eingestuft werden, bilden den
ursprünglichen Kern der Sage, wie er auch in zahlreichen anderen epigraphischen
und handschriftlichen Quellen des Mittelalters überliefert ist. So finden sich
ähnliche Schilderungen im Ende des 14. Jahrhunderts angelegten und 1585 vom
Stadtschreiber Franz Moller kopierten Stadtbuch Hamelns und als Inschrift etwa am
Rattenfängerhaus in Hameln. Der anonyme Verfasser der Notiz macht deutlich,
dass sich das Beschriebene vermutlich nicht so abgespielt habe, wie
dargestellt, wenn er das Geschehene selbst als „miraculum“ (Wunder, Wunderzeichen) bezeichnet. Zu unerklärlich
scheinen ihm dafür wohl die geheimnisvolle Wirkung, die der Flöte spielende
Jüngling auf die Hamelner Kinder ausübte sowie das geheimnisvolle Verschwinden
der Kinder an der Kalvarienstätte der Stadt, zu sein. Nicht nur an diesen
gleichsam magischen Zügen, die das Geschehene hier zugeschrieben bekommt,
sondern auch an dem Umstand, dass der anonyme Schreiber selbst diesen Vorgang so
beschrieben in einem „antiquo libro“ (alten
Buch) gefunden hat, zeigen, dass sich das Ereignis schon längst zu einer ‚Sage’
(ein ursprünglich mündlich tradierter Bericht über eine häufig nicht
alltägliche, oft wunderbare Begebenheit) entwickelt hatte. Das bedeutet, dass die
Wiedergabe der Geschichte in treuer, konkreter Erinnerung einst aufgegeben
wurde. All die Aspekte der Geschichte, die sich der direkten menschlichen
Erfahrung entzogen, wurden nun mithilfe übernatürlicher Elemente zu erklären versucht.
Anders verhält es sich mit dem letzten Satz, der losgelöst
von den vorangehenden Erläuterungen betrachtet werden muss. Die besagte Mutter
des Dekans war zur Zeit des Ereignisses in Hameln zwischen 10 und 14 Jahre alt
und hat augenscheinlich den Auszug der Kinder als Augenzeugin miterlebt, ihren
Bericht vermutlich auch noch mündlich an jüngere Hamelner weitergegeben. Damit
ist dieser eher lapidar anmutende Satz der Hinweis für eine uralte, historische
Überlieferung des Verschwindens bzw. Fortziehens von Kindern aus Hameln. Und
auch die Datierungen einiger Urkunden des 14. und 15. Jahrhunderts auf „na der kinder vthgang“ bzw. „post exitum puerorum“, zeigen, dass es
ein historisch so einschneidendes Ereignis in Hameln gegeben haben muss, dass
die Hamelner Jahreszählung daraufhin sogar verändert wurde, das aber heute in
seiner Historizität aufgrund der schnellen sagenhaften Entwicklung nicht mehr
rekonstruiert werden kann.
Die Verbindung mit der Rattenthematik wurde erst in der
zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vorgenommen. Dabei muss festgehalten
werden, dass die Motive eines Mannes, der Dörfer und Städte mit magischen
Kräften von Ungeziefer (Mäuse, Ratten, Schlangen etc.) befreite oder Ratten-
und Mäuseplagen, die das Böse verkörperten, im europäischen Mittelalter weit
verbreitet waren. Es sei in diesem Zusammenhang etwa an die Sage Erzbischof
Hattos I. von Mainz erinnert, der, in einem Turm gefangen, bei Bingen am Rhein
von Mäusen getötet wurde. Das Rattenfängermotiv, das im 16. Jahrhundert Einlass
in die Hamelner Lokalsage erhielt, war also keinesfalls neu.
Erzbischof Hatto I. in der Schedelschen Weltchronik (https://de.wikipedia.org/wiki/Hatto_I.#/media/File:Nuremberg_chronicles_-_Hatto,_Archbishop_of_Mainz_(CLXXXIIv).jpg) |
Erstmals erwähnte
1565 Graf Froben Christoph von Zimmern den Flöte spielenden Jüngling als
Rattenfänger. Dies war gleichsam die Geburtsstunde der Hamelner
Rattenfängersage. Froben Christoph von Zimmern erzählt, dass Hameln einst von
einer großen Rattenplage belästigt wurde, weshalb ein Fahrender die Stadt
aufgesucht und sich angeboten habe, für eine gewisse Entlohnung die Stadt von
der Rattenplage zu befreien. Nach der finanziellen Übereinkunft sei der Mann
dann „durch alle gasen der Stat mit eim pfeifle gangen, dasselbig an den
mundt genommen und gepfiffen“.
Dadurch hätten „sich alle
ratzen (Ratten) der ganzen Stat usser allen heusern versamlet und haufechtig
(haufenweise) mit ungleublicher anzall im (ihm; dem Flötenspieler) uf dem fueß
nachgelofen für (vor) die Stat.“ Dort habe der Rattenfänger die Ratten in
einem Berg verbannt, sodass sie diesen nie wieder verlassen und die Stadt
plagen könnten. Da aber die Stadt Hameln dem Rattenfänger nach getaner Arbeit
die versprochene Entlohnung verweigert habe, „gieng er wieder durch alle
gassen der statt mit seinem pfeifle, wie vor; da sein im (ihm; dem
Flötenspieler) mertails der jungen kindt under acht oder neun jaren [...] kinden, knaben und
medlin, uf dem fueß nachgevolgt, für (vor) der stat zum nechsten berg.“ Wie bei den Ratten auch habe sich der Berg dann
auf wundersame Weise geöffnet, sodass die Kinder und der Flötenspieler in
diesen gehen konnten und danach nie wieder gesehen wurden.
Aus dem gut gekleideten Jüngling,
der es schaffte, dass Kinder dem Klang seiner silbernen Flöte folgten und
aufgrund seines geheimnisvollen Tuns in einem Berg verschwanden, wurde nun ein
sagenhafter Rattenfänger, der sich aufgrund ausbleibender Entlohnung an der
Stadt Hameln rächte und Hamelner Kinder entführte, die auf ebenfalls magische
Art und Weise nie wieder gesehen wurden. Im 16. Jahrhundert war es dann vor
allem diese Form der Sage (Doppelsage), die breit rezipiert wurde.
Da keine Erklärung dafür gefunden werden konnte, warum
Kinder einem Flöte spielenden und Ratten fangenden Fahrenden (Fahrende galten
als unehrliche Leute, die recht- und besitzlos waren) folgten, setzte im 16.
Jahrhundert eine zunehmende Dämonisierung des Rattenfängers ein, der nun immer
teuflischere Züge annahm. In einer Quelle aus dem Jahre 1566 wird dieser etwa
als „daemonum tibicinem sanguinarum“
(Flöte spielender, blutsaugender Dämon) bezeichnet, während andere Quellen ihn noch
deutlicher als „Diabolus“ (Teufel)
bzw. „Diabolus humana forma“ (Teufel
in Menschengestalt) und damit als teuflischen Verführer der Hamelner Kinder charakterisierten.
Schon frühzeitig wurden immer wieder verschiedene
Erklärungsmodelle für die Sage diskutiert. Auffällig ist dabei, dass zwar die
Doppelsage aus Rattenfänger und Kindesentführer rezipiert wurde, aber immer nur
versucht wurde, das historische Geschehen des zweiten Teils der Sage zu
rekonstruieren. Kein Geringerer als Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) argumentierte
im 17. Jahrhundert, dass der Sage historisch gesehen die Rekrutierung von
Kindern für den Kinderkreuzzug 1212 zugrunde liegen könnte, während auch andere
Hypothesen wie die Entführung der Kinder durch Mönche oder Räuber sowie die
verheerenden Umstände von Naturkatastrophen für das Verschwinden der Hamelner
Kinder angenommen wurden. Auch religiöse Hysterien wie die von Zeitgenossen so
bezeichnete ‚Tanzwut’, bei der Menschen so lange tanzten, bis ihnen Schaum aus
dem Mund floss, sie sich verwundeten oder erschöpft zusammenbrachen, wurden für
den Verlust der Kinder verantwortlich gemacht. Vor allem aber spielte eine
Theorie immer wieder eine Rolle, in der der Rattenfänger zum Werber im Auftrag
des Bischofs von Olmütz (Bruno von Schauenburg, Bischof 1245-1281) für die
Ostkolonisation erklärt wurde, der in Hameln um Kinder/ junge Erwachsene im
heiratsfähigen Alter bat, um mit diesen eine Siedlung in entweder den Regionen
Siebenbürgen, Masuren, Pommern oder Mähren zu gründen. Nicht selten wurde das
Verschwinden der 130 Kinder auch gleichgesetzt mit den Verlusten, die die Stadt
1260 in der Schlacht bei Sedemünder gegen den Bischof von Minden (Wedekind I.
von Hoya, Bischof 1253-1261) verzeichnet hatte.
Diese Doppelsage vom Rattenfänger von Hameln und dem Auszug/
Verschwinden der Hamelner Kinder wurde durch die Jahrhunderte hindurch immer weiter
rezipiert und Anfang des 19. Jahrhunderts dann von den Gebrüdern Jacob und
Wilhelm Grimm als Die Kinder zu Hameln
in die Sammlung Deutsche Sagen
aufgenommen. Seitdem entstanden immer wieder neue vor allem literarische Ausarbeitungen
neben der auch breiten medialen Rezeption der Sage in Filmen, Comics, Cartoons
oder den örtlichen Inszenierungen in Rattenfängerspielen bzw.
Rattenfänger-Freilichtspielen.
Zum Weiterlesen:
Spanuth, Heinrich: Der Rattenfänger von Hameln. Vom Werden
und Sinn einer alten Sage, Hameln 21969.
Dobbertin, Hans (Hg.): Quellensammlung der Hamelner Rattenfängersage (Schriften zur niederdeutschen Volkskunde 3), Göttingen 1970.
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