Sonntag, 28. Juni 2015

Der Rattenfänger von Hameln

Wohl vermutlich jeder hat schon einmal entweder in Erzählungen, in der Schule, in Geschichtsbüchern, in historischen Romanen oder bei der Beschäftigung mit mittelalterlichen Sagen von jenem bunt gekleideten Mann gehört, der im 13. Jahrhundert Flöte spielend die niedersächsische Stadt Hameln von einer Rattenplage befreit haben soll. Dass der Kern dieser Sage aber vielmehr auf den Auszug bzw. die magische Entführung von 130 Kindern aus der Stadt Hameln zurückgeht, dürfte dabei nur den wenigsten bekannt sein. In diesem kurz!-Artikel soll dargestellt werden, wie sich die Hamelner Sage im Laufe der Jahrhunderte formte und wie aus einer männlichen Sagengestalt, die mit ihrer silbernen Flöte Kinder anlockte, ein Rattenfänger und Kindesentführer wurde.


Als der Hamelner Lateinschulrektor Samuel Erich 1654 in seinem Exodus Hamelensis ein Glasfenster der Hamelner Marktkirche beschrieb, bemühte er sich auch darum, die Inschrift des sich mittlerweile in einem schlechten Zustand befindenden Glasbildes zu rekonstruieren und untersuchte damit die älteste Quelle der Hamelner Sage. Während das um 1300 entstandene Glasfenster einen farbprächtig gekleideten Mann zeige, der umgeben sei von Kindern, weise die Inschrift nur sehr fragmentarisch auf das sagenhafte Geschehen in Hameln hin und lasse daher eine Rekonstruktion der Geschehnisse nicht zu. Hierüber gibt jedoch eine Lüneburger Handschrift Aufschluss, die vermutlich in der ersten Hälfe des 15. Jahrhunderts entstand. Auf der letzten Seite des Kodex’, in dem eigentlich naturwissenschaftliche und philosophische Themen behandelt werden, befindet sich eine handschriftliche lateinische Notiz, die übersetzt Folgendes ausführt:
Zu vermelden ist ein höchst seltenes Wunderzeichen, das sich in der Stadt Hameln [...] im Jahre des Herrn 1284 gerade am Tage des Johannes und Paulus ereignete. Ein Jüngling von 30 Jahren, schön und überaus wohl gekleidet, [...] trat über die Brücke und durch das Wesertor (in die Stadt) ein. Auf einer silbernen Flöte von wundersamer Form begann er sodann durch die ganze Stadt hin zu pfeifen. Und alle Kinder, die diese Flöte hörten, an Zahl etwa 130, folgten ihm zum Ostertore hinaus zur sogenannten Kalvarien- und Gerichtsstätte. Dort verschwanden und entwichen sie, daß niemand aufspüren konnte, wo eines von ihnen geblieben war. [...] Dieses habe ich in einem alten Buche gefunden. Und die Mutter des Herrn Dekans Johann von Lüde sah die Kinder fortziehen. (zitiert nach: Spanuth, S. 16)

Kopie der Rattenfängerdarstellung auf dem Glasbild in der Hamelner Marktkirche
(https://de.wikipedia.org/wiki/Rattenfänger_von_Hameln#/media/File:Pied_piper.jpg)

Diese Ausführungen in der Lüneburger Handschrift, die noch heute historisch als äußerst authentisch eingestuft werden, bilden den ursprünglichen Kern der Sage, wie er auch in zahlreichen anderen epigraphischen und handschriftlichen Quellen des Mittelalters überliefert ist. So finden sich ähnliche Schilderungen im Ende des 14. Jahrhunderts angelegten und 1585 vom Stadtschreiber Franz Moller kopierten Stadtbuch Hamelns und als Inschrift etwa am Rattenfängerhaus in Hameln. Der anonyme Verfasser der Notiz macht deutlich, dass sich das Beschriebene vermutlich nicht so abgespielt habe, wie dargestellt, wenn er das Geschehene selbst als „miraculum“ (Wunder, Wunderzeichen) bezeichnet. Zu unerklärlich scheinen ihm dafür wohl die geheimnisvolle Wirkung, die der Flöte spielende Jüngling auf die Hamelner Kinder ausübte sowie das geheimnisvolle Verschwinden der Kinder an der Kalvarienstätte der Stadt, zu sein. Nicht nur an diesen gleichsam magischen Zügen, die das Geschehene hier zugeschrieben bekommt, sondern auch an dem Umstand, dass der anonyme Schreiber selbst diesen Vorgang so beschrieben in einem „antiquo libro“ (alten Buch) gefunden hat, zeigen, dass sich das Ereignis schon längst zu einer ‚Sage’ (ein ursprünglich mündlich tradierter Bericht über eine häufig nicht alltägliche, oft wunderbare Begebenheit) entwickelt hatte. Das bedeutet, dass die Wiedergabe der Geschichte in treuer, konkreter Erinnerung einst aufgegeben wurde. All die Aspekte der Geschichte, die sich der direkten menschlichen Erfahrung entzogen, wurden nun mithilfe übernatürlicher Elemente zu erklären versucht.
Anders verhält es sich mit dem letzten Satz, der losgelöst von den vorangehenden Erläuterungen betrachtet werden muss. Die besagte Mutter des Dekans war zur Zeit des Ereignisses in Hameln zwischen 10 und 14 Jahre alt und hat augenscheinlich den Auszug der Kinder als Augenzeugin miterlebt, ihren Bericht vermutlich auch noch mündlich an jüngere Hamelner weitergegeben. Damit ist dieser eher lapidar anmutende Satz der Hinweis für eine uralte, historische Überlieferung des Verschwindens bzw. Fortziehens von Kindern aus Hameln. Und auch die Datierungen einiger Urkunden des 14. und 15. Jahrhunderts auf „na der kinder vthgang“ bzw. „post exitum puerorum“, zeigen, dass es ein historisch so einschneidendes Ereignis in Hameln gegeben haben muss, dass die Hamelner Jahreszählung daraufhin sogar verändert wurde, das aber heute in seiner Historizität aufgrund der schnellen sagenhaften Entwicklung nicht mehr rekonstruiert werden kann.
Die Verbindung mit der Rattenthematik wurde erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vorgenommen. Dabei muss festgehalten werden, dass die Motive eines Mannes, der Dörfer und Städte mit magischen Kräften von Ungeziefer (Mäuse, Ratten, Schlangen etc.) befreite oder Ratten- und Mäuseplagen, die das Böse verkörperten, im europäischen Mittelalter weit verbreitet waren. Es sei in diesem Zusammenhang etwa an die Sage Erzbischof Hattos I. von Mainz erinnert, der, in einem Turm gefangen, bei Bingen am Rhein von Mäusen getötet wurde. Das Rattenfängermotiv, das im 16. Jahrhundert Einlass in die Hamelner Lokalsage erhielt, war also keinesfalls neu.

Erzbischof Hatto I. in der Schedelschen Weltchronik
(https://de.wikipedia.org/wiki/Hatto_I.#/media/File:Nuremberg_chronicles_-_Hatto,_Archbishop_of_Mainz_(CLXXXIIv).jpg)

Erstmals erwähnte 1565 Graf Froben Christoph von Zimmern den Flöte spielenden Jüngling als Rattenfänger. Dies war gleichsam die Geburtsstunde der Hamelner Rattenfängersage. Froben Christoph von Zimmern erzählt, dass Hameln einst von einer großen Rattenplage belästigt wurde, weshalb ein Fahrender die Stadt aufgesucht und sich angeboten habe, für eine gewisse Entlohnung die Stadt von der Rattenplage zu befreien. Nach der finanziellen Übereinkunft sei der Mann dann „durch alle gasen der Stat mit eim pfeifle gangen, dasselbig an den mundt genommen und gepfiffen“. Dadurch hätten „sich alle ratzen (Ratten) der ganzen Stat usser allen heusern versamlet und haufechtig (haufenweise) mit ungleublicher anzall im (ihm; dem Flötenspieler) uf dem fueß nachgelofen für (vor) die Stat.“ Dort habe der Rattenfänger die Ratten in einem Berg verbannt, sodass sie diesen nie wieder verlassen und die Stadt plagen könnten. Da aber die Stadt Hameln dem Rattenfänger nach getaner Arbeit die versprochene Entlohnung verweigert habe, „gieng er wieder durch alle gassen der statt mit seinem pfeifle, wie vor; da sein im (ihm; dem Flötenspieler) mertails der jungen kindt under acht oder neun jaren [...] kinden, knaben und medlin, uf dem fueß nachgevolgt, für (vor) der stat zum nechsten berg.“ Wie bei den Ratten auch habe sich der Berg dann auf wundersame Weise geöffnet, sodass die Kinder und der Flötenspieler in diesen gehen konnten und danach nie wieder gesehen wurden.
Aus dem gut gekleideten Jüngling, der es schaffte, dass Kinder dem Klang seiner silbernen Flöte folgten und aufgrund seines geheimnisvollen Tuns in einem Berg verschwanden, wurde nun ein sagenhafter Rattenfänger, der sich aufgrund ausbleibender Entlohnung an der Stadt Hameln rächte und Hamelner Kinder entführte, die auf ebenfalls magische Art und Weise nie wieder gesehen wurden. Im 16. Jahrhundert war es dann vor allem diese Form der Sage (Doppelsage), die breit rezipiert wurde.
Da keine Erklärung dafür gefunden werden konnte, warum Kinder einem Flöte spielenden und Ratten fangenden Fahrenden (Fahrende galten als unehrliche Leute, die recht- und besitzlos waren) folgten, setzte im 16. Jahrhundert eine zunehmende Dämonisierung des Rattenfängers ein, der nun immer teuflischere Züge annahm. In einer Quelle aus dem Jahre 1566 wird dieser etwa als „daemonum tibicinem sanguinarum“ (Flöte spielender, blutsaugender Dämon) bezeichnet, während andere Quellen ihn noch deutlicher als „Diabolus“ (Teufel) bzw. „Diabolus humana forma“ (Teufel in Menschengestalt) und damit als teuflischen Verführer der Hamelner Kinder charakterisierten.
Schon frühzeitig wurden immer wieder verschiedene Erklärungsmodelle für die Sage diskutiert. Auffällig ist dabei, dass zwar die Doppelsage aus Rattenfänger und Kindesentführer rezipiert wurde, aber immer nur versucht wurde, das historische Geschehen des zweiten Teils der Sage zu rekonstruieren. Kein Geringerer als Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) argumentierte im 17. Jahrhundert, dass der Sage historisch gesehen die Rekrutierung von Kindern für den Kinderkreuzzug 1212 zugrunde liegen könnte, während auch andere Hypothesen wie die Entführung der Kinder durch Mönche oder Räuber sowie die verheerenden Umstände von Naturkatastrophen für das Verschwinden der Hamelner Kinder angenommen wurden. Auch religiöse Hysterien wie die von Zeitgenossen so bezeichnete ‚Tanzwut’, bei der Menschen so lange tanzten, bis ihnen Schaum aus dem Mund floss, sie sich verwundeten oder erschöpft zusammenbrachen, wurden für den Verlust der Kinder verantwortlich gemacht. Vor allem aber spielte eine Theorie immer wieder eine Rolle, in der der Rattenfänger zum Werber im Auftrag des Bischofs von Olmütz (Bruno von Schauenburg, Bischof 1245-1281) für die Ostkolonisation erklärt wurde, der in Hameln um Kinder/ junge Erwachsene im heiratsfähigen Alter bat, um mit diesen eine Siedlung in entweder den Regionen Siebenbürgen, Masuren, Pommern oder Mähren zu gründen. Nicht selten wurde das Verschwinden der 130 Kinder auch gleichgesetzt mit den Verlusten, die die Stadt 1260 in der Schlacht bei Sedemünder gegen den Bischof von Minden (Wedekind I. von Hoya, Bischof 1253-1261) verzeichnet hatte.
Diese Doppelsage vom Rattenfänger von Hameln und dem Auszug/ Verschwinden der Hamelner Kinder wurde durch die Jahrhunderte hindurch immer weiter rezipiert und Anfang des 19. Jahrhunderts dann von den Gebrüdern Jacob und Wilhelm Grimm als Die Kinder zu Hameln in die Sammlung Deutsche Sagen aufgenommen. Seitdem entstanden immer wieder neue vor allem literarische Ausarbeitungen neben der auch breiten medialen Rezeption der Sage in Filmen, Comics, Cartoons oder den örtlichen Inszenierungen in Rattenfängerspielen bzw. Rattenfänger-Freilichtspielen.


Zum Weiterlesen:
Spanuth, Heinrich: Der Rattenfänger von Hameln. Vom Werden und Sinn einer alten Sage, Hameln 21969.
Dobbertin, Hans (Hg.): Quellensammlung der Hamelner Rattenfängersage (Schriften zur niederdeutschen Volkskunde 3), Göttingen 1970.

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