Neben
der Identifikation republikanischer Kräfte mit Jeanne d’Arc entdeckten aber
auch national und royal eingestellte Katholiken die Jungfrau für sich. Sie
betonten ihren göttlichen Auftrag, den König zu seiner Salbung nach
Reims zu führen und machten aus ihr eine „Dienerin des Königs“ und eine
katholische Heldin, die sogar als Heilige infrage kam. Dies führte so weit,
dass 1869 sogar ein formelles Heiligsprechungsgesuch an den Papst gerichtet
wurde, woraufhin ein entsprechender Prozess eingeleitet wurde. Dieser endete
1920 mit der Kanonisierung der Jungfrau von Orléans, die als französische
Nationalheilige, aber auch als Heilige der Telegrafie und des Rundfunks gilt.
So rangen also vor allem seit der Mitte des 19. Jahrhundert Linke und Rechte in
Frankreich um Johanna. Während des Ersten Weltkrieges (1914-1918) war sie in
Medien und auf Plakaten beinahe omnipräsent, um die Soldaten zu Heldentaten zu
beflügeln. 1921 wurde sogar ein Jeanne d’Arc-Feiertag am zweiten Sonntag im Mai
eingeführt und auch der 8. Mai, der Jahrestag der Befreiung Orléans, wird bis
heute in der Stadt gefeiert.
Erst
für die extremen Nationalisten der 1920er und 1930er Jahre wurde es schwer,
Jeanne zu einem Sinnbild ihrer autoritären Ideologie umzuformen, da sie stets
ihre Selbstbestimmtheit betont hatte und sich in permanenter Auseinandersetzung
mit Machthabern befunden hatte. Nach der Niederlage Frankreichs gegen das
Deutsche Reich unternahm Maréchal Pétain (1856-1951) einen Versuch, sie als
Verkörperung von Tradition und Gehorsam zu verklären und gleichzeitig für den
Antisemitismus zu instrumentalisieren. Dies stieß allerdings nicht auf die
erhoffte Akzeptanz in der Bevölkerung. Eher noch blieb die Jungfrau ein
Sinnbild der Résistance, die
Frankreich von fremder Herrschaft befreien wollte, auch wenn die Erinnerung an
sie vom Widerstand weniger systematisch betrieben wurde als vom Vichy-Regime
unter Pétain. Für beide Seiten, so gegensätzlich ihre Ziele auch waren, diente
die Jungfrau jedoch als nationale Integrationsfigur.
Auch
mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges (1939-1945) ging der Konflikt um die
Deutungshoheit des Jeanne d’Arc-Mythos weiter. So wurde sie einerseits als
Helferin beim Aufbau eines friedlichen und geeinten Europas in Betracht
gezogen, aber auch als Bannerträgerin für die Entkolonialisierung der Dritten
Welt und Befreierin unterdrückter Völker. Andererseits wurde Jeanne vor allem
von extremen Rechten instrumentalisiert, um den Kampf für ein Frankreich frei
von Fremden voranzutreiben. So begeht beispielsweise der rechtsextreme Front National, zunächst unter
Jean-Marie Le Pen und inzwischen unter dessen Tochter Marine Le Pen, bis heute jährlich
am 1. Mai einen Aufmarsch im Gedenken an Johanna und ihren Kampf gegen fremde
Besatzer und nutzt sie zur Konstruktion einer nationalistisch-französischen
Identität.
1. Mai-Kundgebung des Front National aus dem Jahr 2012. Die Vorsitzende Marine Le Pen präsentiert sich vor einem Jeanne d'Arc-Banner, http://www.liberation.fr/politiques/2012/05/01/marine-le-pen-dimanche-je-voterai-blanc_815492
Für
die extreme Rechte in Frankreich ist die Jungfrau von Orléans eine Art
„nationale Türsteherin, die heute nicht mehr die englischen Invasoren in Schach
zu halten hat, sondern Frankreich unerbittlich gegenüber Einwanderern
verteidigt“ (Himmel, Stephanie, Von der „bonne Lorraine“ zum globalen „magical
girl“, S. 121). Vor allem
durch diese starke Vereinnahmung durch den Front
National gibt es heute für Jeanne d’Arc kaum noch einen anderen Platz im
politischen Spektrum.
Diese
vielseitige Instrumentalisierung für unterschiedliche politische Zwecke und
Ziele geht vor allem auf die Vielschichtigkeit des Mythos rund um Jeanne d’Arc
zurück. So war sie einerseits treue Anhängerin des Königs und gläubige
Christin, was sie zum Aushängeschild für katholische und monarchistische
Strömungen werden ließ. Andererseits war sie als Mädchen aus dem Volk, das von
König und Kirche verraten worden war, die ideale Identifikationsfigur für die
Republikaner. Ihr Kampf gegen ausländische Besatzer und das damit einhergehende
identitätsstiftende Moment machte sie schließlich zur Galionsfigur für die
französische Rechte, die Jeanne heute politisch fast vollständig zu
vereinnahmen scheint. Dennoch ist die Faszination für die Jungfrau von Orléans
ungebrochen, was sich an der vielfältigen Rezeption zeigt.
So
spielt Jeanne beispielsweise im ersten Teil von Shakespeares Drama Heinrich VI. (1589-1590) eine Rolle,
wobei die Schilderungen hier nicht den historischen Tatsachen entsprechen. Auch
Voltaire (1694-1778) griff den Stoff in seinem komischen, in manchen Versionen
sogar pornographischen Gedicht La Pucelle
d‘Orléans von 1762 auf, in dem er das „barbarische“ Mittelalter kritisierte
und Jeanne d’Arc zu einem Objekt der korrupten Hofgesellschaft machte. Dem
stand Friedrich Schillers Drama Die
Jungfrau von Orléans entgegen, das den historischen Tatsachen zwar kaum
gerecht wurde (beispielsweise stirbt Johanna auf dem Schlachtfeld und nicht auf
dem Scheiterhaufen), in dem die Jungfrau aber als selbstständige Heldin und
Patriotin auftritt. Auch Anfang des 20. Jahrhunderts hatte der Stoff in der
Literatur noch Konjunktur: Für sein Drama Die
heilige Johanna (1923), das auch mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet
wurde, studierte George Bernard Shaw beispielsweise die Prozessakten und
bemühte sich um die Verwendung möglichst vieler Originalzitate. Auch Bertold
Brecht widmete sich dem Stoff gleich mehrfach (Die heilige Johanna der Schlachthöfe, Die Gesichter der Simone Marchand, Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rouen). Er weist vor allem auf das
Problem von Herrschaft und Glauben aber auch von individuellem Protest und
gesellschaftlichen Zwängen hin.
Neben der literarischen Verwendung des
Stoffes griffen auch Kunst, Musik und Film die Geschichte immer wieder auf und
verarbeiteten sie vielfach, sodass die Jungfrau von Orléans heute beinahe jedem
ein Begriff ist und zu den bekanntesten und am meisten rezipierten Gestalten
des Mittelalters zählt. Die äußerst vielfältige und teilweise gegensätzliche
Rezeption spiegelt, ähnlich wie auch bei der politischen Instrumentalisierung,
die Vielschichtigkeit und Bandbreite der Geschichte und die damit verbundenen
Identifikationsmöglichkeiten wider.
Zum Weiterlesen:
Krumeich,
Gerd, Jeanne d’Arc. Die Geschichte der Jungfrau von Orleans, München 2006, 2.
Auflage.
Himmel, Stephani, Von der "bonne Lorraine" zum globalem "magical girl". Die Mediale Inszenierung des Jeanne d'Arc-Mythos in populären Erinnerungskulturen (Formen der Erinnerung 28), Göttingen 2007.
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