Sonntag, 25. November 2018

‚dar verkledden und vermummeden sich knechte und magede‘ – Karneval im Norden

Vielerorts wurde vor zwei Wochen am Elften im Elften um 11:11 Uhr die neue Karnevals-, Fastnachts- oder Faschingssession eröffnet – je nach Region können die Bezeichnungen variieren. Das Ausrufen des Karnevals ist damit der Startschuss für zahlreiche folgende Feiern, Karnevalssitzungen und Vorstellungen von Prinzenpaaren. Ihren Höhepunkt erreicht die Session im nächsten Jahr, wenn am Rosenmontag, dem Montag vor Aschermittwoch, in zahlreichen Städten Karnevalsumzüge veranstaltet werden. Auch im Mittelalter gab es in vielen Orten Karnevalsfeierlichkeiten; in Nürnberg wurde der ‚Schembartlauf‘ – ein anfänglich von den Nürnberger Metzgern organisierter Maskenumzug – veranstaltet, aber auch in Braunschweig und Hildesheim gab es ähnliche Festlichkeiten. Karneval feierte man aber auch im noch ‚höheren Norden‘ – in Riga. Eine in mittelniederdeutscher Sprache verfasste Fastnachtsordnung aus dem Jahr 1510 vermittelt einen Eindruck davon, wie die so genannten ‚Schwarzhäupter‘, eine Vereinigung von unverheirateten Kaufleuten am Ende des Spätmittelalters bzw. zu Beginn der Frühen Neuzeit, die Karnevalszeit feierte und die damit verbundenen Festivitäten organisierte. Die 216 Punkte umfassende Fastnachtsordnung der Schwarzhäupter soll im Mittelpunkt dieses kurz!-Artikels stehen.

Ein Nusswerfer beim Nürnberger Schembartlauf (Nürnberg,  Stadtbibliothek, Solg. Ms. 25.2°, fol. 12)(https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Schembartlauf#/media/File:Nuernberger_Schembartlauf.jpg)


Die Schwarzhäupter waren eine Kaufgesellenvereinigung in Riga, die eine Ausbildung zum Hansekaufmann durchliefen und nach erfolgreichem Ausbildungsende so lange als Angestellte tätig waren, bis sie genügend Kapital hatten, um sich selbständig zu machen. Gerade aufgrund des rastlosen Lebens, das die Kaufgesellen aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeiten hauptsächlich auf dem Wasser (der Nord- oder Ostsee) führten, war es für diese häufig schwierig, gesellschaftlichen Anschluss zu finden. Die Mitgliedschaft in der Vereinigung bot hier einen Ausweg: Treffen im ‚Schwarzhäupterhaus‘ ermöglichten ein geselliges Beisammensein und einen gemeinsamen Austausch. Insbesondere während der Winterzeit, in der die Schifffahrt eingestellt wurde, war die Vereinigung ein wichtiger Anlaufpunkt und Weihnachten und Karneval gehörten, da sie in die Winterzeit fielen, zu den wichtigsten Festen für die Schwarzhäupter. Da die Besetzung der Vereinigung einer steten Fluktuation ausgesetzt war, wurde schriftlich festgehalten, wie Karneval und Weihnachten gefeiert werden sollten. In diesem Zusammenhang entstand 1510 auch die ordenynge unde dat regyment van den vastelavende der swarten hovede to Ryghe.

Die Organisation des vastelavendes (wörtl. des ‚Fastenabends‘ bzw. der Abend vor Aschermittwoch) begann bei den Schwarzhäuptern jährlich zur Weihnachtszeit. Während der Weihnachtstage oder acht Tage davor bzw. danach sollten die Vorsteher der Schwarzhäupter zusammen mit der gesamten Gemeinschaft aus den eigenen Reihen einträchtig zwei so genannte vastelavendes schaffere wählen. Die vastelavendes schaffere waren für die Organisation des Karnevalsfestes zuständig und für den reibungslosen Ablauf der Feierlichkeiten bis zu deren Ende verantwortlich. Zu den ersten Aufgaben der Organisatoren gehörte es, das Bier für die Festivitäten in Auftrag zu geben. Es sollte das beste Bier zur Verfügung stehen, das die beiden Organisatoren bekommen konnten. Insgesamt schreibt die Fastnachtsordnung vor, dass mindestens 11 Lasten, aber maximal 12 Lasten (~22-24 Tonnen) Bier beschafft werden sollten. Daneben zählte zu den Aufgaben der vastelavendes schaffere auch das Brauen des Mets, der neben dem Bier auf den täglich stattfindenden Umtrunken serviert wurde, sowie die Beschaffung unterschiedlichster Kerzen und Wachslichter, die vor allem während zahlreicher Tänze zum Einsatz kamen.

Etwa drei Wochen vor dem vastelâvent galt es, Musiker zu gewinnen. Dazu sollten die beiden Organisatoren eine kleine Mahlzeit vorbereiten und den Vorsteher der Schwarzhäupter zusammen mit seinen beiden Beisitzern einladen, um diese auszuwählen. Daneben waren die beiden vastelavendes schaffere bemüht, noch weitere Helfer zu rekrutieren: Ein Junge, der die Aufgabe hatte, den beiden Organisatoren Hut und Stock hinterherzutragen, sollte ebenso den Ablauf der Feierlichkeiten unterstützen wie ein Kellerknecht und mehrere Dienstmägde, die insbesondere für das Auftragen des Bieres verantwortlich waren. Alle wurden für die Zeit der Festivitäten mit spezieller Kleidung aus unterschiedlichen Stoffen ausgestattet. Auch das Herrichten des Schwarzhäupterhauses für den Karneval zählte zum Aufgabenbereich der beiden Organisatoren: das Haus bzw. der Keller des Hauses sollte myt decken, myt hilgen laken unde myt anderen bylden geschmückt werden.

Am Montag vor vastelâvent sollten dann erste kleinere Umtrunke im Kreis der Vereinigung organisiert werden; zur Mittagszeit war es an diesem Tag die Aufgabe der Organisatoren, eine Mahlzeit vorzubereiten, um währenddessen zusammen mit dem Vorsteher der Schwarzhäupter, seinen Beisitzern sowie zwei bis drei anderen Ältesten das in Auftrag gegebene ber [zu] besmeken, also das Bier zu probieren, und den Verkaufspreis desselben festzusetzen. 

Die ersten großen Karnevalsumtrunke wurden dann am Mittwoch vor der Fastnacht veranstaltet. Die vastelavendes schaffere hatten den Keller des Schwarzhäupterhauses nach der Mittagsmahlzeit aufzuschließen und die Musikanten sollten zu diesen Anlässen auf den bungen unde trummetten sowie schalmeyden zur musikalischen Untermalung des Treibens spielen. Daneben galt für die beiden Organisatoren eine Präsenzpflicht: Sie mussten während aller Karnevalsumtrunke, für die die Fastnachtsordnung jeweils ein genau vorgeschriebenes Prozedere vorsah, stets anwesend sein. Sie waren es, die den Keller für die Umtrunke aufschlossen und nach diesen zusperrten; der Keller sollte na 12 desz avendes nicht appen stehen. 

Seinen ersten Höhepunkt erreichten die karnevalistischen Feierlichkeiten am Donnerstag vor dem vastelâvent. An diesem Tag sollten die beiden Organisatoren zur Mittagszeit zu Pferde bereit sein, um zuerst die beiden Beisitzer und dann den Vorsteher der Schwarzhäupter abzuholen. Währenddessen versammelten sich die übrigen Kaufgesellen auf dem Hof des Schwarzhäupterhauses, um auf das Eintreffen der beiden Organisatoren und des Vorstehers zu warten. Nach deren Ankunft ritten alle nach einer streng hierarchischen Abfolge in einer Art Umzug durch die Stadt bis zum Marktplatz. Abends wurde erneut zu einem gemeinsamen Umtrunk in den Keller des Schwarzhäupterhauses geladen. Nicht nur der Verzehr von alkoholischen Getränken gehörte dabei zum Abendprogramm, sondern auch unterschiedliche Tänze waren fester Bestandteil. Die Fastnachtsordnung schreibt dabei für die verschiedenen Tänze jeweils feste Tanzordnungen vor: Bei einem bestimmten Reigen hatte der Vorsteher der Schwarzhäupter vorne zu tanzen, gefolgt vom seinem Amtsvorgänger. Daran anschließend tanzten die beiden Beisitzer des Vorstehers sowie die übrigen Kaufgesellen der Vereinigung. Auch Frauen wirkten bei diesen Tänzen mit; vermutlich handelte es sich dabei um Freundinnen der ja noch unverheirateten Kaufgesellen. Ebenso sieht die Fastnachtsordnung mehrfach vor, dass die Personen, die an einem Tag im vorderen Bereich mittanzen durften, am darauffolgenden Tag an das Ende des Reigens gesetzt wurde.

Am Freitag und Samstag vor der Fastnacht wurden ebenfalls wieder Karnevalsumtrunke veranstaltet, zu denen Bier gereicht, Musik gespielt und nach festgelegten Ordnungen getanzt wurde. Am Sonntag verlagerte sich das Geschehen erneut auf den Marktplatz. Nach mehreren Tänzen der Schwarzhäupter um das Schwarzhäupterhaus zogen die Gesellen durch die Straßen zum Marktplatz, um sich dort zu versammeln und anschließend auch das Rathaus gleichsam tanzend zu erobern. Nach mehreren Tänzen im Rathaus zogen die Gesellen dann nachmittags durch die Straßen, hielten tanzlustig vor verschiedenen Häusern, wechselten mehrmals die Tanzformationen, wiederholten bestimmte Tänze und trafen sich schlussendlich nachmittags am Marktplatz wieder. Abends schloss sich erneut ein ausgiebiger Karnevalsumtrunk im Schwarzhäupterhaus an.

Darstellung des Nürnberger Schembartlaufs (Nürnberg, GNM, Hs. Merkel 2° 271, fol. 64v-65r)
(https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Schembartbuch_GNM_Hs_Merkel_271#/media/File:GNM_HsMerkel271_img_136-137.jpg)

Der Rosenmontag zeichnete sich durch einen ähnlichen Ablauf aus wie der Sonntag: Item des mandages in den grote vastelavende geyt idt so to, alsz idt des sondages togegan is. Allerdings informiert die Fastnachtsordnung darüber, dass sich an diesem Tag die Tänze änderten und auch die damit verbundenen Tanzordnungen. Am Dienstag vor Aschermittwoch gab es dann abends ein großes Treffen des Vorstehers und seiner Beisitzer, in dessen Mittelpunkt ein ausgiebiges Abendessen und das zwischenzeitliche Verzehren von Heringen stand, mit dem man dann in vasten gan (in die Fastenzeit gehen) wollte. Nach dem Abendessen wurde der Abend mit zahlreichen Tänzen und kurzen Reden beendet. 

Auch am Aschermittwoch kamen die Schwarzhäupter morgens wieder zusammen. An diesem Tag wurden im Schwarzhäupterhaus vom Vorsteher die Schragen, also die Statuten der Vereinigung, laut vorgelesen, um sie jedem der Mitglieder ins Gedächtnis zu rufen:
Ersame, guden vrunde, men sal hyr unse schrage unde unse gerechticheyt lesen; eyn yderman trede hyr neger, dat he moge horen unse syck vor broke unde schaden mochte wachten.
Während des an die Verlesung der Statuten anschließenden Essens konnten die Schwarzhäupter ihre Zwistigkeiten mit anderen Mitgliedern vor dem Vorsteher vorbringen, der dann seinerseits über Recht und Unrecht entschied. Im Anschluss daran wurde erneut Bier verzehrt und getanzt. Interessant ist, dass die Fastnachtsordnung erwähnt, dass nach dem Tanz eine Mischung aus drogen engever und muschaten, in eyn grot vat gesneden, in solt gelecht herumgegeben wurde. Vermutlich handelt es sich dabei um eine Art Heilmittel gegen eine mögliche Alkoholintoxikation bzw. gegen ‚Katerstimmung‘ aufgrund des Alkoholkonsums.

Das Karnevalsfest der Schwarzhäupter nahm sein Ende am Dienstag in der Fastenzeit. Gegen ein oder zwei Uhr versammelten sich die Kaufgesellen zusammen mit Leuten aus dem Böhmerwald auf dem Markplatz myt alle deme spele unde vorbernen den bom dar myt vrouwen unde syn dar vrolik went an den lychten dach; unde dar mede ist de vastelavent beslaten. An diesem Nachmittag wurde auf dem Marktplatz ein Baum verbrannt und ein letztes Mal bis in die Morgenstunden zusammen gefeiert.

 Nürnberger Schembartlauf (Oxford, Bod. Lib., MS. Douce 346, fol. 183r)
(
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/ba/Schembartbuch_183r.jpg)
Auch wenn die Fastnachtsordnung von Riga beinahe minutiös den Ablauf eines jeden Karnevalstages zu organisieren und zu planen versucht, erwähnt der Text keine Verkleidungen, die von den Schwarzhäuptern während der Festivitäten getragen wurden. Dass jedoch das Verkleiden bzw. der so genannte mummenschantze schon im Mittelalter Usus war, zeigen die Aufzeichnungen eines Münsteraner Chronisten, der im Jahr 1569 einen Bericht zu den Karnevalsfeierlichkeiten in Münster verfasste. Wie in jedem Jahr sei auch 1569 wieder der Karneval gefeiert worden, weswegen diede ein ieder die tzeidt uber was ihm gelustede und geliebte ungestrafet. In diesem Fall hebt der Chronist eindeutig auch Verkleidungen hervor, die von den Beteiligten getragen wurden: Dar verkledden und vermummeden sich knechte und magede und anthere ungenanten. Das Verkleiden war also ein elementarer Bestandteil des Münsterschen Karnevals. So verkleidet zogen die Mitfeiernden unerkandt mit pfeiffen, trummen, harffen, lauthen, fiolen und feddelen durch die Straßen, dantzeden und sprungen und stelten sich nicht anders an als wilde bieste und unsinnige leuthe. Wohin sie auch kamen, wurden sie mit Bier und Wein empfangen, sammelten Fleisch und Wurst, tanzten in den unterschiedlichsten Häusern und einige waren aufgrund der Verkleidung nicht in der Lage, vernünftig zu trinken, weswegen tzinnen pfiffen (quasi zinnerne Strohhalme) genutzt wurden.

Interessanterweise erwähnt der Chronist auch, dass es in Münster eigentlich nicht möglich war, sich dem Karneval zu entziehen. Diejenigen, die nicht mitfeierten, wurden mit Gewalt uf einer letteren in den krog gestellt und als Bestrafung mit Wasser übergossen. Auch die Mitfeiernden, die den mit Wasser Übergossenen zu Hilfe kamen, erwartete diese Form der Bestrafung.

Sowohl die vastelâvent-Feierlichkeiten in Riga als auch die karnevalistischen Festivitäten in Münster zeigen, dass es auch im Mittelalter bzw. der Frühen Neuzeit eine weit verbreitete Karnevalskultur gab, die in den Städten auf unterschiedliche Art und Weise gepflegt wurde. Oder, wie es der Münsteraner Chronist zusammenfassend beschrieb: in summa allenthalben sof man und fras.

Zum Weiterlesen:
  • Schragen der Gilden und Aemter der Stadt Riga bis 1621, hrsg. von der Gesellschaft für Geschichte und Alterthumskunde der Ostseeprovinzen Russlands; bearb. von Wilhelm Stieda und Constantin Mettig, Riga 1896, S. 579-623. 
  • Die Münsterischen Chroniken von Röchell, Stevermann und Cofrey (Die Geschichtsquellen des Bistums Münster 3), hrsg. von Joh. Janssen, Münster 1856, S. 32-34.
  • Domenig, Christian: Fasching – Fastnacht – Karneval. Zur Etymologie der Namen und zum Zeitraum des Narrenfestes, in: Johannes Grabmeyer (Hg.): Das Königreich der Narren. Fasching im Mittelalter (Schreiftenreihe der Akademie Friesach, NF 1), Klagenfurt 2009, S. 21-38.
  • Petzold, Leander: Fastnacht, Fasching, Karneval, in: Johannes Grabmeyer (Hg.): Das Königreich der Narren. Fasching im Mittelalter (Schreiftenreihe der Akademie Friesach, NF 1), Klagenfurt 2009, S. 75-92.

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