Im
14. und 15. Jahrhundert kam es im Gebiet um die Flüsse Rhein, Mosel und Maas
vereinzelt zu sogenannten Tanzwutausbrüchen. Größere Gruppen von Menschen
tanzten ohne erkennbare Ursache so lange, bis sie in Ekstase verfielen und
teilweise nach einigen Tagen vor Erschöpfung zusammenbrachen oder in seltenen
Fällen auch starben. Andere Begriffe, die dieses merkwürdige Phänomen
beschreiben, waren Tanzkrankheit, Tanzplage, Tanzsucht, Tanzpest, Choreomanie,
im Englischen dancing plague oder im
Lateinischen epilepsia saltatoria. Bis heute konnte für diese Ausbrüche
keine eindeutige Ursache festgestellt werden, vielmehr gibt es verschiedene
Erklärungsansätze und Deutungsversuche. Im Jahr 1374 fand eine solche Tanzwut von
Belgien bis zum Oberrhein statt. Die sogenannte Limburger Chronik berichtet
darüber: „Anno 1374 Mitte des Sommers
erhub sich ein wunderlich Ding auf Erden und sunderlich in Teutschen Landen,
auf dem Rhein und auf der Mosel, also daß Leut anhuben zu danzen und zu rasen.“
1463 sollen sich im Eifelgebiet ähnliche Ereignisse abgespielt haben und schließlich
vor genau 500 Jahren im Jahr 1518 in Straßburg. Um die letztgenannte Tanzwut und
ihre möglichen Gründe soll es in unserem neuen Artikel gehen.
Am 15. Juni oder Mitte Juli 1518 soll eine Frau, die in den Quellen Madame Troffea genannt wird, ihr Haus in Straßburg verlassen haben; sie soll auf die Straße getreten sein und plötzlich ohne erkennbare Ursache wie unter Zwang begonnen haben zu tanzen. Im Historisch-literarischen Anekdoten- und Exempelbuch aus dem Jahr 1824 heißt es dazu: „Dieses Tanzes Urheberin war ein Weib namens Troffer, eine halsstarrige, wetterwendische, tolle Kreatur, die alle Menschen, und ihren lieben Mann besonders, durch ihre Albernheiten recht zu ärgern gedachte. […] Ihr Mann mochte das Tanzen nicht leiden, um dennoch aber tanzen zu können, gab die Frau vor, sie könne, sie wisse nicht von was angetrieben, es nicht lassen.“ AugenzeugInnen sollen sie zunächst belächelt haben und dann erstaunt gewesen sein, da Madame Troffea schlicht nicht mehr aufhörte oder aufhören konnte, zu tanzen. Gleichzeitig sollen andere Menschen ebenfalls angefangen haben, sodass sich schließlich innerhalb der ersten Woche angeblich 34 Menschen kontinuierlich sowohl tags als auch nachts rhythmisch bewegten. Ende August 1518 sollen es in Straßburg schon einige hundert Menschen und in der Mehrheit arme Frauen gewesen sein, die wie bei einer Massenhysterie unkontrolliert tanzten. Eine elsässische Chronik berichtet: „Viel hundert fingen zu Straßburg an, zu tanzen und zu springen, Fraw und Mann, Am offenen Markt, Gassen und Straßen, Tag und Nacht ihrer viel nicht assen, Bis ihn‘ das Wüthen wieder gelag. St. Veits Tanz ward genannt die Plag.“ In ihren Bewegungen ließen sich diese Menschen nur durch akute Erschöpfung, plötzlichen Schlaf oder starke körperliche Schmerzen stoppen. Viele sollen irgendwann kollabiert sein. Auch finden sich Hinweise auf Todesfälle im Zuge der Tanzwut.
Der
Rat und die Verwaltung der Stadt Straßburg hatten diesem Phänomen nichts
entgegenzusetzen. Auch zu Rate gezogene Geistliche und Ärzte konnten nicht
helfen. Anstatt zu versuchen, es wie auch immer zu beenden, verliehen die
Ratsherren der Tanzwut zunächst den Schein der Normalität und der Ordnung. So
ließen sie eine Bühne errichten und Musik spielen, sodass es auf den ersten
Blick so scheinen musste, als würden sich die Betroffenen ganz normal bei einer
Tanzveranstaltung dem Tanzen hingeben. Vor Übermüdung Zusammengebrochene ließ
man von der Bühne bringen, die anderen tanzten ohne Pause weiter. Womöglich
hoffte man durch dieses Vorgehen jedoch auch, dass die Betroffenen durch die
Schnelligkeit ihrer Bewegungen, die noch durch rhythmische Musik gefördert
wurden, mögliche Giftstoffe im Körper möglichst schnell ausschwitzen würden,
wodurch man sich Besserung versprach.
Schließlich
entwickelte sich die Idee, mit den Tänzern und Tänzerinnen zu einer Kapelle des
Heiligen Vitus oder Veit (gestorben um 304) zu pilgern, da dieser als einer der
vierzehn Nothelfer und als Schutzpatron der Tänzer verehrt wurde. Außerdem ist
sein Gedenktag der 15. Juni, an dem – nach Aussagen mancher Quellen – die
Tanzwut in Straßburg überhaupt erst ausgebrochen sein soll. In der Nähe der
Stadt Saverne im Niederelsass befand sich solch eine Kapelle, zu der die Gruppe
tanzend geführt wurde. Nachdem hier zunächst eine Messe gelesen worden war,
erhielt jeder der Betroffenen ein Paar roter Schuhe, um damit den Schrein von
Sankt Veit abzuschreiten. Die nachträglich verfasste Chronik des Festungsbaumeisters,
Ingenieurs und Kartographen Daniel Specklin (1536-1589) aus Straßburg berichtet
über diese Maßnahme: „An den Schuhen war unten und oben ein creutz mit
balsam aus salböl gemacht und mit weywasser besprengt in St. Veits namen, da
halff ihn vast allen.“ Tatsächlich hörten die Menschen, nachdem sie um den
Schrein gegangen waren, so plötzlich mit dem Tanzen auf, wie sie einst begonnen
hatten. Erinnern konnte sich keiner der Betroffenen an sein außergewöhnliches
Verhalten der letzten Tage und Wochen. Auch begann niemand danach wieder mit
dem unkontrollierten und zwanghaften Tanzen.
Sankt
Vitus in Der Schedelschen Weltchronik, 1493.
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/96/Vitus_CXXVr.jpg
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Schon
damals rätselten die Zeitgenossen über die Auslöser und Gründe der Tanzwut. In
Chroniken finden sich Berichte über das „heisse Blut“ der Tanzenden, der
englische Arzt Thomas Sydenham (1624-1689) nahm hingegen eine Form von
Epilepsie als Ursache an. Verschiedentlich wurde und wird bis heute hinter der
Tanzsucht eine natürliche Krankheit vermutet. Entweder ist von Epilepsie die
Rede oder es wird eine Entzündung des Gehirns vermutet oder die erbliche
Krankheit Chorea Huntington, die ebenfalls das Gehirn befällt, dient zur
Erklärung. Das Interessante hierbei ist, das ein seit dem 16. Jahrhundert
bezeugter früherer Name für Chorea Huntington im deutschen Raum Veitstanz oder
Großer Veitstanz ist, da der Heilige Veit als Helfer bei der Krankheit
angerufen wurde. Häufig geäußerte Überlegungen, dass die Pest das Tanzen
bedingt haben könnte und die Hysterie der Menschen im Angesicht des Schwarzen
Todes widerspiegelte, gelten heute als widerlegt, da die Pest nachweislich
zeitlich nicht gleichzeitig an den Orten, an denen das Tanzen beobachtet werden
konnte, gewütet hat. Auch erscheinen die genannten Krankheiten als Ursache
deshalb nicht schlüssig, da es sich bei ihnen um individuelle Krankheiten
handelt, die nicht in Form einer Epidemie auftreten. Vielleicht handelte es
sich bei ihr auch um das zufällige Aufeinandertreffen unterschiedlicher
Phänomene, die aufgrund der äußeren ähnlichen Erscheinungsform von den
Zeitgenossen und Chronisten zu einem zusammengefasst wurden. Der schweizerisch-österreichischer
Arzt Paracelsus (1493/94-1541) zweifelte hingegen das ganze Phänomen der
Tanzwut grundlegend an und vermutete vielmehr, dass es sich hierbei um
massenhafte sexuelle Ausschweifungen handelte, weshalb er vorschlug, die Ereignisse
als chorea lasciva zu bezeichnen.
Andere
vermutete wiederum vielmehr eine pflanzliche Vergiftung beispielsweise durch
Mutterkorn als Ursache des Tanzens. Dieser Pilz befällt häufig Nahrungs- und
Futtergetreide wie Roggen und erweist sich für den Menschen als stark toxisch.
Er kann Halluzinationen und Krämpfe auslösen. Gerade in Zeiten von schlechten
Ernten und Hungersnöten, die es im 16. Jahrhundert häufiger gab, aßen die
Menschen aus der Not heraus auch verschimmeltes Getreide. Allerdings
beschreiben die regionalen Quellen nur das Tanzen und keine anderen Symptome. Ein
weiterer Ansatz, der auf natürliche Erklärungen für die Tanzwut abzielt, nimmt
den möglichen Biss durch giftige Tiere in den Blick. Womöglich könnte das
Verhalten aus dem Biss der Europäischen Schwarzen Witwe resultiert haben, deren
Gift starke und tagelange Muskelkrämpfe auslöst. Da sie aber vor allem nachts
aktiv ist, wurde schon bald die größere Apulische Tarantel verdächtigt, die
tagsüber aktiv ist. Erinnert sei hier an die Redensart „wie von der Tarantel
gestochen“, die im Umfeld der Tanzwut ihren Ursprung haben soll, da sie meist
unkontrolliertes Verhalten beschreibt. Bei diesem Erklärungsansatz stellt sich
jedoch die Frage, wie plötzlich eine große Zahl von Menschen von diesen in den
betreffenden Regionen doch nicht besonders weit verbreiteten Spinnen gebissen
worden sein soll.
Während
auf der einen Seite nach natürlichen Erklärungen für das Verhalten der Menschen
gesucht wurde, finden sich auf der anderen Seite auch Ansätze, die den
zeitgenössischen Glauben beziehungsweise Aberglauben der Menschen in den Blick
nehmen. Denn während Sankt Vitus als Schutzpatron der Tänzer und als Retter von
der Tanzwut gefeiert wurde, liegen auch zeitgenössische Schriften vor, die von
einem Sankt Vitus-Fluch handeln. So habe Sankt Vitus die Menschen mit der
Tanzsucht auch bestrafen können. Und je mehr Menschen diesem Fluch zum Opfer
fielen, umso stärker wurde der Fluch und konnte noch mehr Menschen in seinen
Bann ziehen. Womöglich könnte es sich bei dem exzessiven Tanzen aber auch um
eine Form religiöser Ekstase im Angesicht der Heilsunsicherheit der Betroffenen
gehandelt haben. Der Historiker Gregor Rohmann vermutet, dass unfreiwilliges
Tanzen das Gefühl widerspiegelte, von Gott verlassen worden zu sein. Denn im
Spätmittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit konkurrierten verschiedene
Bewertungen des Tanzes miteinander. Geistliche bewerteten öffentliches Tanzen
teilweise als teuflische Versuchung und als Bedrohung für das Seelenheil,
während andererseits versucht wurde, durch Tanz Zugang zu den himmlischen
Sphären zu erlangen. Aus diesem Dilemma heraus sollen sich unfreiwillige
Tanzbewegungen als Zeichen von Gottverlassenheit entwickelt haben, die Rohmann
als Form von Mania, also als göttlich inspirierten Wahnsinn, deutet. Oder
sollte das Tanzen als möglicher Ausweg oder als extreme Form der Ablenkung vom
irdischen Leben dienen?
Keine
der geschilderten Erklärungen konnte bislang bewiesen werden oder sich
allgemein durchsetzen. Somit muss das Phänomen der Tanzwut, das in zahlreichen
schriftlichen und bildlichen Quellen rezipiert wurde, vorerst weiter ein Rätsel
bleiben.
Zum
Weiterlesen:
Donaldson, LJ u. a.: The Dancing Plague. A Public
Health Conundrum, in: Public Health 111 (1997), S. 201-204.
Rohmann,
Gregor: Vom „Enthusiasmus“ zur „Tanzwut“. Die Rezeption der platonischen
„Mania“ in der mittelalterlichen Medizin, in: Jahrbuch Tanzforschung 21 (2011),
S. 46-61.
Rohmann,
Gregor: Tanzwut. Kosmos, Kirche und Mensch in der Bedeutungsgeschichte eines
mittelalterlichen Krankheitskonzepts, Göttingen 2012.
Waller, John: A Time to Dance, A Time to Die. The
Extraordinary Story of the Dancing Plague of 1518, Thriplow 2008.
Interessanter Artikel, spannend wie solche Phänomene in der Vergangenheit "behandelt" wurden (Errichten einer Bühne, Abspielen von Musik).
AntwortenLöschenHeute würde man dies aus medizinischer Sicht am ehesten als Massenhysterie klassifizieren. Der Umgang mit solchen Phänomenen in der jüngeren Geschichte ist da jedoch leider weniger einfallsreich. Vergleiche Lachepidemie( https://de.wikipedia.org/wiki/Tanganjika-Lachepidemie ) oder die Arjenyattah-Epidemie ( https://de.wikipedia.org/wiki/Arjenyattah-Epidemie )
LG Joshi