Sonntag, 1. Juli 2018

Von Würmern, Wässern und Wunden – Arzneibücher im Mittelalter

Weme eyn vel oeuer dat oughe gewasen is, dey sal nemen eyne gans swarte katten ind dat hovet bernen to puluer. Mit dieser Präparationsanweisung zur Herstellung eines Heilpulvers aus dem zu Pulver gebrannten Kopf einer schwarzen Katze, das gegen Hautfalten über dem Auge eingesetzt werden kann, beginnt das im 15. Jahrhundert entstandene Stockholmer Arzneibuch. Ganz andere Informationen liefert der Beginn des um 1400 zusammengestellten Utrechter Arzneibuchs: De minsche is gemaket van ver stucken: van der erde vnde van der lucht, van vure vnde van watere. Mit dem Rückgriff auf die Vier-Elemente-Lehre, nach der alles Sein aus den vier Elementen Erde, Luft, Feuer und Wasser zusammengesetzt ist, wird hier der Mensch in dieses Schema eingeordnet. Obwohl beide Texte schon zu Beginn ganz unterschiedliches heilkundliches Wissen vermitteln, können sie dennoch beide als Arzneibücher eingeordnet werden. In diesem kurz!-Artikel sollen deutsche, insbesondere mittelniederdeutsche, Arzneibücher des Mittelalters genauer betrachtet werden. Es soll danach gefragt werden, aus welchen Texten diese zusammengesetzt sind und aus welchen medizinischen Wissensbereichen sie Wissen vermitteln.

Anatomische Darstellung der Venen an einem Venenmann (13. Jh.)
(https://en.wikipedia.org/wiki/Medieval_medicine_of_Western_Europe#/media/File:13th_century_anatomical_illustration_-_sharp.jpg)

Neben Kräuterbüchern sind Arzneibücher, die ihren Ursprung bereits in der Spätantike haben, die zentrale Textsorte medizinischer Literatur des Mittelalters. Die landessprachige Überlieferung setzte im 10. Jahrhundert mit altenglischen Texten ein, die deutschsprachige Tradition begann um 1100 mit oberdeutschen Texten, während lateinische Arzneibücher schon viel früher belegt sind (bspw. das Lorscher Arzneibuch, um 800). Noch im 12./13. Jahrhundert entstanden mit dem Bartholomäus (12. Jh.) und dem Arzneibuch Ortolfs von Baierland (13. Jh.) die wohl prominentesten Arzneibücher des Mittelalters. Während heute Pharmakopöen, also Verzeichnisse offizieller Arzneimittel mit Vorschriften über ihre Präparation, Indikation und Beschaffenheit als Arzneibuch bezeichnet werden, waren diese im Mittelalter viel mehr als nur Arzneimittelverzeichnisse. Sie sind Lehr- und Fachbücher der allgemeinen Heilkunde. Deswegen enthalten sie nicht nur Anweisungen zur Herstellung verschiedenster Heilmittel, sondern auch zahlreiche Texte zur Therapie und Diagnostik, die ein Arzt während des Medizinierens benötigte. Schon die zeitgenössischen Bezeichnungen arzâtbuoch (Buch des Arztes) oder arzenbuoch (Buch von Arzneien/Medikamenten) verweisen auf diese deutlich vielseitigere Funktion. 

Die wichtigsten Texte, die in jedem mittelalterlichen Arzneibuch gefunden werden können, sind medizinische Rezepte – am häufigsten solche, deren Mittel direkt Krankheiten untergeordnet werden. Das Bremer Arzneibuch (entstanden im 14. Jh.) beinhaltet zum Beispiel ein Rezept zur Herstellung eines Medikaments gegen Kopfschmerzen: To dem hovede. Morellenwortelen myt pepere unde myt wyne ghesoden vnde gedrunken der daghe avent unde morghen, dat is deme hovede gut. Man solle Nachtschattenwurzel mit Pfeffer und Wein aufkochen und diesen Absud drei Tage lang abends und morgens trinken, um den Kopfschmerz zu heilen. Auch Rezepte zur Herstellung von Heilmitteln gegen Fieber finden sich in vielen Arzneibüchern. Im Stockholmer Arzneibuch wird geraten, eine dunne salue aus Kümmel, dem Harz des Mastixbaumes und Ammoniakgummi sowie Eiweiß herzustellen. Diese Salbe solle dann abends vor dem Schlaf auf die Schläfen und auf die Stellen des Handgelenks aufgebunden werden, an denen sich der arterielle Puls leicht tasten lasse. In beiden Fällen geht es um die Herstellung von Medikamenten, die explizit bei spezifischen Krankheiten verwendet werden können. Daneben sind auch Rezepte für solche Heilmittel, die Parasiten abtöten können, belegt. Im Utrechter Arzneibuch werden beispielsweise Informationen gegeben, um ein Mittel gegen Haarwürmer herzustellen. Wer mit diesen befallen sei, de scal nemen gerstenstro vnde bernen dat to oselen vnde maken darvan loge. Mit dieser Lauge, die eben aus zu Asche gebranntem Gerstenstroh hergestellt wird, könne man sich dann die Haare waschen, so geyt de worm al ut. Auch Mittel gegen Spulwürmer sind aufgeführt: Wer an diesen leide, der sede aurinen (Tausendgüldenkraut) mit wine vnde drinc dat

Inhaltsverzeichnis des Lorscher Arzneibuchs (Bamberg, SB,  Msc. Med. 1, fol. 9r)
(https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/7f/Lorscher_Arzneibuch%2C_Blatt_9r.jpg)

Neben den spezifischen Krankheiten zugeordneten Rezepten nehmen Texte zur Wundbehandlung einen großen Umfang ein. Im Bremer Arzneibuch ist sogar die Rede von der besten salven bei Wunden. Um diese herzustellen, müsse man zunächst einen Aal auskochen, um dessen Fett zu gewinnen. Danach müsse zusätzlich das Fett einer Henne und einer Gans gewonnen werden. Diese tierischen Fette gelte es dann mit dem Pflanzensaft vom Salbei, Wermut, Efeu sowie von der Raute und der Hundszunge zu vermischen. Eine geschwollene Wunde könne nun mit dieser Salbe behandelt werden. Demgegenüber überliefert das Utrechter Arzneibuch neben mehreren Texten zur Herstellung von Wundpflastern auch einen zur Anfertigung eines Wundheiltranks: Man neme stenblomen vnde seden de an wine oft an goden bere vnde drincken se al nuchteren vnde des auendes ene goden dranck. Die blutende Wunde könne geheilt werden, wenn ein Heiltrank aus Echter Kamille und Wein oder gutem Bier zubereitet und dieser Absud auf nüchternen Magen und abends getrunken wird. 

Einen aus heutiger Sicht seltsamen Eindruck hinterlassen wohl solche Rezepte, die der mittelalterlichen Dreckapotheke zugerechnet werden können. Hier werden Exkremente von unterschiedlichen Lebewesen bei der Zubereitung von Heilmitteln verwendet. So könne ein geschwollenes Bein, laut Stockholmer Arzneibuch, mit Kuhmist und Lehm behandelt werden. Bei einer blutenden Wunde helfe hingegen eine Salbe aus Eiweiß, Aloe, Weihrauch und Hasenmist. Ebenso kann auch ein weiteres Rezept aus dem Stockholmer Arzneibuch zur Dreckapotheke gezählt werden, bei dem Hautkrebs mit einem zu Asche gebrannten Maulwurf behandelt werden könne.

Neben Rezepten beinhalten mittelalterliche Arzneibücher solche Texte, die der Diagnose von Krankheiten dienen und ein wichtiges Handwerkszeug für den medizinierenden Arzt waren. Vor allem die Diagnostik mittels Puls-, Harn- und Blutschau spielte hier eine wichtige Rolle. Das Stockholmer Arzneibuch widmet sich gleich in mehreren Kapiteln der Uroskopie, dem wohl wichtigsten Diagnoseverfahren der mittelalterlichen Medizin, und beginnt dazu einleitend: So wey nu weten will, wat sukedaghe dey mensche heuet, dey sal dat mercken by der varwe, dey dat water des menschen heuet. Möchte man also herausfinden, an welcher Krankheit ein Mensch leide, so könne man dies anhand der Farbe des menschlichen Urins tun. Wenn der Urin roit vnde dicke sei, so heuet dey mensche dat feber. Sei der Urin jedoch eher gering und bleich, dann habe der Mensch etwas Unverdauliches im Körper. Und während wenig milchfarbener Urin auf Harnsteine verweise, deute ein vielfarbiger Urin auf mehrere gleichzeitige Erkrankungen hin. 

Mittelalterliches Diagnoserad zur Harnschau. Die Farben des Urins sind direkt den
jeweiligen Diagnosen zugeordnet.
(https://en.wikipedia.org/wiki/Urine#/media/File:P._28_a_chart_showing_urine_colours_and_their_meaning.jpg)

Das Bremer Arzneibuch beinhaltet gleichzeitig zur Uroskopie auch Anweisungen zur Hämatoskopie – der Blutschau. Dieses Kapitel trägt die Überschrift: Du scalt merken unde scalt ansen dat latene blot ut der aderen. Denn auch die Betrachtung des durch den Aderlass gewonnenen Blutes galt im Mittelalter als wichtiges Diagnoseverfahren. Sei das Blut weißlich und schaumig, so leide der Mensch an Husten und einer Lungenerkrankung. Habe das Blut jedoch eine eher gelbliche Farbe, spreche dies für eine Erkrankung der Leber. Der Mensch sei jedoch gesund, wenn das Blut schön rot sei und sich ein wenig Wasser im Blut befinde.

Diesen Diagnoseverfahren schloss sich im Mittelalter in vielen Fällen eine Therapie an, die nicht immer nur im Verabreichen von Medikamenten bestand. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass viele Arzneibücher auch Traktate zum Aderlass oder zu anderen Therapieverfahren beinhalten. Im Kapitel zur Lunge werden etwa im Utrechter Arzneibuch mehrere Vorschriften dazu gemacht, welche Ader bei welcher Krankheit gelassen werden soll: De adere, de vnder der tunghen leget, de is guot ghelaten deme, dat tenenvleisch swllen is. Bei Zahnschmerzen biete es sich also an, die Ader unter der Zunge zu lassen. Demgegenüber helfe ein Aderlass der Ader neben dem kleinen Finger an der linken Hand, um Krankheiten der Milz zu behandeln. Weitere Texte in den Arzneibüchern verraten, dass es Tage gab, die als für den Aderlass gefährlich eingestuft wurden. Einen solchen Text, der zum Traditionsstrang der Pariser Verworfenen Tage gehört, ist im Stockholmer Arzneibuch überliefert. Hier werden 32 Tage des Jahres, unter Berufung auf gewisse Meister von Paris, anhand von Planeten- bzw. Sternenkonstellationen als für den Aderlass gefährlich erklärt. Beispielsweise habe der Monat Januar sieben solcher Tage: Ein Aderlass am 1., 2., 4., 5., 7., 15. und 18. Januar sei demnach besonders gefährlich. Zwar werden keine direkten medizinischen Folgen genannt, aber dennoch sal sich eyn juwelick mensche hoeden, dat hey neyn bloit en late

Ebenso wird bei einem Blick in die Arzneibücher deutlich, dass im Mittelalter Medizin und Magie dicht beieinander lagen. Das Stockholmer Arzneibuch überliefert beispielsweise mehrere medizinische Segen gegen Fieber oder gegen die Pest. Daneben wird einigen ‚Rezepten‘ auch eine zauberhafte Wirkung zugesprochen: Hänge man etwa die letzten Federn des Flügels einer Elster an einem roten Band ins Haus, könne niemand, der sich dort aufhält, schlafen. Auch Mittel, die Liebe erwecken sollen, werden genannt: Nym de tungen van der swalen vnde werke dyt in nygghe was vnde nym de der jn den munt vnde kusse. Eine in Wachs gegossene Schwalbenzunge löse demnach Liebe aus, wenn man diese während des Kusses im Mund halte.

Mittelalterliche Arzneibücher sind viel mehr als der heute gebräuchliche Terminus Arzneibuch suggeriert. Zwar beinhalten sie hauptsächlich medizinische Rezepte, daneben jedoch auch immer Texte, die der Diagnose und Therapie von Krankheiten dienen und deswegen für das praktische Medizinieren besonders wichtig sind. Nicht selten werden in diesen die medizinischen Theorien der Zeit (bspw. Säfte- und Temperamentenlehre) sichtbar. Jedes Arzneibuch ist dabei in seiner Textzusammenstellung unverwechselbar – auch wenn immer wieder Parallelen zu anderen Arzneibüchern deutlich werden. Es bestand die Möglichkeit, unterschiedliche Texte, die auch unabhängig voneinander funktionieren, miteinander zu kombinieren. Hier insbesondere zeigt sich die starke Praxisbezogenheit mittelalterlicher Arzneibücher, die sowohl von Mönchs-, Wund- und Laienärzten genutzt wurden: Es wurde zusammengestellt, was bei der individuellen praktischen Arbeit jeweils gebraucht wurde, um ein möglichst umfassendes heilkundliches Lehr- und Fachbuch zu erhalten.


Zum Weiterlesen:
  • Keil, Gundolf: Art. Arzneibücher, in: LexMa 1 (1980), Sp. 1091 
  • Lindgren, Agi: Ein Stockholmer mittelniederdeutsches Arzneibuch aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Acta Universitatis Stockholmiensis 5), Stockholm 1967.
  • Lindgren, Agi: Das Utrechter Arzneibuch (Ms. 1355,16°, Bibliotheek der Rijksuniversiteit Utrecht) (Acta Universitatis Stockholmiensis 21), Stockholm 1977.
  • Schnell, Bernhard: Werk, Textcorpus oder Sammelhandschrift? Zu den deutschsprachigen Arzneibüchern des Mittelalters, in: Mechtild Habermann (Hg.): Textsortentypologien und Textallianzen des 13. und 14. Jahrhunderts (Berliner Sprachwissenschaftliche Studien 22), Berlin 2011, S. 177-200.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen