Sonntag, 23. August 2015

Der Aderlass im Mittelalter

Das „pluot [ist] rot vnd schoen […], der [Mensch] ist gesunt avn zwifel.“ So ähnlich könnte der positive Befund eines Arztes im Mittelalter nach einem der ältesten medizinischen Verfahren überhaupt geklungen haben: dem Aderlass bzw. der Phlebotomie. Dieser kurz!-Artikel widmet sich dem besagten medizinischen Heilverfahren und versucht, zu beantworten, wo die Ursprünge des Aderlasses liegen, wann und wogegen das Verfahren im Mittelalter angewandt wurde sowie wer und vor allem wie jemand zur Ader gelassen wurde.


Es ist heute unmöglich, zu bestimmen wann und wo der Aderlass zum ersten Mal praktiziert wurde. Dennoch gilt es als gesichert, dass dieses Heilverfahren schon vor mehr als 2000 Jahren beispielsweise in den Kulturen der Ägypter, Araber, Babylonier, Chinesen, Inder, Inkas und Maya angewandt wurde. Auch in der Heilkunde der griechischen Antike spielte der Aderlass eine wichtige Rolle. Dies ist keineswegs überraschend, da die Heilkunde der alten Griechen sich insgesamt an den Prinzipien der Humoralpathologie orientierte: Ärzte gingen davon aus, dass ein Ungleichgewicht der vier wichtigen Körpersäfte des Menschen (Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle) zu Krankheiten führe und diese durch das Ablassen von Körpersäften behandelt werden könnten, da nur dadurch das richtige Verhältnis der Körpersäfte wiederhergestellt werde. Die Integration des Aderlasses – bei dem der Körper eines Menschen durch die Entnahme einer gewissen Menge Blut von schädlichen und krankheitserregenden Flüssigkeiten befreit werden soll – in die Heilkunde der griechischen Antike war also aufgrund der Orientierung an der Säftelehre problemlos möglich.
In der Epoche der (früh-)mittelalterlichen Klostermedizin, die mit der Gründung des Benediktinerklosters auf dem Monte Cassino 529 begann, war der Aderlass als Heilbehandlung durch das Wissen aus alten überlieferten Handschriften der Klosterbibliotheken äußerst beliebt und weit verbreitet. So wurden Aderlässe vermutlich schon im 6./7. Jahrhundert in vielen Klöstern regelmäßig vorgenommen und vor allem in den Benediktinerklöstern erfreute sich diese Heilbehandlung großer Beliebtheit. Spätestens im 9./10. Jahrhundert war die Entnahme einer gewissen Menge Blut über die Vene so fester Teil des monastischen Lebens, dass sogar Consuetudines, Regeln für sämtliche Lebensbereiche im Kloster neben der eigentlichen Klosterregel, sich dem Aderlass widmeten und Anweisungen zum Vorgehen, zum Zeitpunkt der Behandlung und zur Dauer beinhalteten. So gibt es Consuetudines, die regeln, dass ein Mönch innerhalb eines Jahres nur maximal dreimal zu Ader gelassen werden darf, während andere Anweisungen bestimmen, dass der Aderlass nur nach der Hauptmesse oder dem Mittagessen vorgenommen werden darf. Nicht selten sehen die Consuetudines für den zur Ader gelassenen Bruder sogar Vergünstigungen vor. Extra für das Aderlassen bereitgestellte, meist beheizte Klosterräume (calefactorium) oder eigens für die Phlebotomie errichtete, separate Gebäude, die sogenannten Aderlasshäuser (minutorium oder phlebotomaria) zeigen zudem, wie sehr der Aderlass zum festen Teil des Klosterlebens geworden war.

Ausschnitt des St. Galler Klosterplans mit dem Aderlasshäuschen des Klosters
(https://de.wikipedia.org/wiki/St._Galler_Klosterplan#/media/File:Codex_Sangallensis_1092_recto.jpg)
Die praktischen Erfahrungen der Klöster mit der Heilbehandlung des Aderlasses gingen dann direkt über in die Lehre der ersten Hochschulen Europas im 13. und 14. Jahrhundert. Auf der universitären Ebene wurde der Aderlass nun weiter praktiziert, zum 'Allheilmittel' erklärt und entwickelte sich schnell zum am häufigsten durchgeführten chirurgischen Eingriff überhaupt.
Wie verlief jedoch die Aderlassbehandlung? Am häufigsten wurde der Aderlass an den Armen, den Beinen oder am Hals von Kranken – Kinder ab drei Jahren, Erwachsene (Frauen und Männer) und Greise wurden zur Ader gelassen – vorgenommen. Dabei staute ein Arzt die zu behandelnde Vene mithilfe einer Aderlassbinde, um dann in einem zweiten Schritt unter Zuhilfenahme eines Aderlasseisens (fliete) die Vene zu schlitzen oder mit dem bickel, einer Art Nadel, zu punktieren, sodass das Blut ablaufen konnte. Das entnommene Blut wurde dann für die direkt an den Aderlass anschließende Blutschau bzw. Hämatoskopie in einem kleinen Aderlassbecken aufgefangen. Nach dem invasiven Eingriff wurde die punktierte oder geschlitzte Stelle verbunden.

Frühe eiserne Fliete 
(https://de.wikipedia.org/wiki/Fliete#/media/File:Ironfleam_1201.JPG)
Aufgrund seiner Wertschätzung als 'Allheilmittel' wurde der Aderlass gegen die unterschiedlichsten Krankheiten und Krankheitsbilder vorgenommen und jede zur Phlebotomie geeignete Vene war mit spezifischen Anwendungsbereichen verbunden: Während der Aderlass am Hals Linderung bei Zahnschmerzen oder Geschwüren im Mundraum versprechen sollte, wurden Ellenbogenvenen geschlitzt oder punktiert, um Schwindel, Krämpfe oder Epilepsie zu behandeln. Auch der Aderlass am Daumen wurde vorgenommen. So beschreibt ein Phlebotomie-Traktat aus dem 15. Jahrhundert: „Zwo audran sint vf dem dovmen an der rechten hand, so man sy lausset, das ist guot für wetage des houptz vnd […] fur allui viefer, besunder fur daz viertäglich viefer“ (Es gibt zwei Adern auf dem Daumen an der rechten Hand, wenn man sie zur Ader lässt, ist das gut gegen die Schmerzen des Kopfes und […] gegen alle Arten von Fieber, besonders gegen das viertägliche Fieber). Das Aderlassen am Daumen wurde also augenscheinlich vorgenommen, um Kopfschmerzen und Fieber zu behandeln. Aufgrund der vielen Lasspunkte, den Körperstellen, an denen die Aderlassbehandlung möglich ist, entstanden zahlreiche Aderlasstraktate und Aderlassbüchlein, in denen die Bedeutungen und Wirkungsbereiche der einzelnen Lasspunkte aufgeführt wurden. Daneben kamen auch die sogenannten Aderlassmännchen auf, die graphisch darüber unterrichteten, an welchen Stellen die Ärzte und Chirurgen den invasiven Eingriff vornehmen sollten. Sie waren gleichsam eine Art Orientierungshilfe für den phlebomator, damit dieser für eine schnelle Behandlung direkt die Aderlasspunkte auf dem Körper des zu Behandelnden ermitteln konnte.

links: Aderlassmännchen aus dem 'Buch der Natur' Konrads von Megenberg, 14. Jahrhundert,
(https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/98/Aderlaßmännlein.jpg)
rechts: Aderlassmännchen, 15. Jahrhundert,
(https://commons.wikimedia.org./wiki/Category:Bloodletting#/media/File:Chart;_venesection,_15th_century_
manuscript._Wellcome_M0007213.jpg)
Allerdings wurde der Aderlass nicht nur gegen Krankheiten verwendet, sondern durch die daran anschließende Hämatoskopie, wobei das entnommene Blut unter anderem nach Farbe und Art der Blutgerinnung beurteilt wurde, war es manchmal überhaupt erst möglich, Krankheiten zu diagnostizieren. Auch der Verfasser des bereits zitierten Phlebotomie-Traktats 'Venarum minutio' gibt darüber Auskunft: Es sei klug, zu wissen, „wie man an dem pluot, das man gelavsse […] krankhait oder gesunthait erkennen soell.“ Sei das Blut nach der Phlepotomie etwa „wyß gestalt als des mentschen spaichel, das bedüt den huosten vnd das der mentsch an der longun siech will werden.“ Weißes bzw. farbloses Blut – vermutlich verursacht durch einen krankhaften Überschuss an Leukozyten – galt also offensichtlich als Indikator für eine zukünftige Lungenerkrankung, während braunscheckiges Blut auf eine Leberkrankheit hinweisen würde. Innerhalb der Klöster wurde die Phlebotomie jedoch nicht nur zur Diagnostik oder Behandlung von Krankheiten vorgenommen, sondern auch zur prophylaktischen Blutreinigung oder als Mittel, das eine Verbesserung des allgemeinen Wohlbefindens versprach. Zudem sahen die Mönche im Aderlassen eine Möglichkeit der Entspannung, der körperlichen Betätigung und aufgrund der häufig mehrmals im liturgischen Jahresablauf verankerten Behandlung eine Pflege des Gemeinschaftsgeistes, weil die Mönche den Aderlass aneinander vornahmen.
Mit dem Beginn des 15. Jahrhunderts waren es vor allem die Klöster, die sich mehr und mehr von der Phlebotomie abwendeten. Zu jener Zeit waren die Chirurgie und damit verbunden eben der Aderlass auf einem so niedrigen Niveau angesiedelt, dass die Geistlichen den Aderlass als nicht mehr würdig genug für sich erachteten. Es waren mittlerweile nicht mehr nur die Klöster und Universitäten, in denen der Aderlass praktiziert wurde, sondern im 15. Jahrhundert ging diese 'niedere' Tätigkeit auf von der Wissenschaft nicht akkreditierte Feldchirurgen, Wundärzte und Bader über. In diesem Zusammenhang entwickelte sich das 'Schröpfen'. Dabei wurden keine Venen mehr punktiert oder geschlitzt, sondern die Haut wurde leicht eingeritzt, wodurch nur eine geringe Menge Blut entnommen werden konnte.
Noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts behielt der Aderlass seine Stellung als häufigster chirurgischer Eingriff überhaupt und wurde bis dahin noch von Medizinern und Badern gleichermaßen durchgeführt. Erst jetzt wurden die mit der Phlebotomie verbundenen Komplikationen zum ersten Mal zusammenfassend dargelegt. So seien Arterienverletzungen ebenso möglich, wie schwerwiegende Entzündungen im Bereich der Einstichstelle oder eine Luftembolie durch den Aderlass am Hals. In der modernen (Schul-)Medizin spielt die Phlebotomie kaum noch eine Rolle.   

Zum Weiterlesen:
- Becker, Peter; Overgaauw, Eef (Hgg.): Aderlass und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln, Mainz 2003.
- Goehl, Konrad; Mayer, Johannes Gottfried: Variationen über den Phlebotomie-Traktat 'Venarum minutio'. Die Vorlage des sogenannten '24-Paragraphen-Textes', in: Dies. (Hgg.): Editionen und Studien zur lateinischen und deutschen Fachprosa des Mittelalters. Festgabe für Gundolf Keil zum 65. Geburtstag (Texte und Wissen 3), Würzburg 2000, S. 45-66.
- Janzen, Jan: Der Aderlass. Eine monastische Tradition, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 110 (1999), S. 57-71.
- Keil, Gundolf: Ein Schlesisches Aderlassbüchlein des 15. Jahrhunderts. Untersuchungen zum funktionsbedingten Gestaltwandel des Vierundzwanzig-Paragraphen-Textes, in: Lena Vanková (Hg.): Fachteste des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit als Objekt der Fachsprachen- und Fachprosaforschung. Tradition und Perspektiven der Fachprosa- und Fachsprachenforschung (Lingua historisch Germania 7), Berlin 2014, S. 75-118.

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