Das „pluot [ist] rot vnd schoen […], der [Mensch] ist gesunt avn
zwifel.“ So ähnlich könnte der positive Befund eines Arztes im Mittelalter
nach einem der ältesten medizinischen Verfahren überhaupt geklungen haben: dem
Aderlass bzw. der Phlebotomie. Dieser kurz!-Artikel widmet sich dem besagten
medizinischen Heilverfahren und versucht, zu beantworten, wo die Ursprünge des
Aderlasses liegen, wann und wogegen das Verfahren im Mittelalter angewandt
wurde sowie wer und vor allem wie jemand zur Ader gelassen wurde.
Es ist heute unmöglich, zu bestimmen wann und wo der Aderlass zum ersten
Mal praktiziert wurde. Dennoch gilt es als gesichert, dass dieses Heilverfahren
schon vor mehr als 2000 Jahren beispielsweise in den Kulturen der Ägypter,
Araber, Babylonier, Chinesen, Inder, Inkas und Maya angewandt wurde. Auch in
der Heilkunde der griechischen Antike spielte der Aderlass eine wichtige Rolle.
Dies ist keineswegs überraschend, da die Heilkunde der alten Griechen sich
insgesamt an den Prinzipien der Humoralpathologie orientierte: Ärzte gingen
davon aus, dass ein Ungleichgewicht der vier wichtigen Körpersäfte des Menschen
(Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle) zu Krankheiten führe und diese durch
das Ablassen von Körpersäften behandelt werden könnten, da nur dadurch das
richtige Verhältnis der Körpersäfte wiederhergestellt werde. Die Integration
des Aderlasses – bei dem der Körper eines Menschen durch die Entnahme einer
gewissen Menge Blut von schädlichen und krankheitserregenden Flüssigkeiten
befreit werden soll – in die Heilkunde der griechischen Antike war also
aufgrund der Orientierung an der Säftelehre problemlos möglich.
In der Epoche der (früh-)mittelalterlichen Klostermedizin, die mit der
Gründung des Benediktinerklosters auf dem Monte Cassino 529 begann, war der
Aderlass als Heilbehandlung durch das Wissen aus alten überlieferten
Handschriften der Klosterbibliotheken äußerst beliebt und weit verbreitet. So
wurden Aderlässe vermutlich schon im 6./7. Jahrhundert in vielen Klöstern regelmäßig
vorgenommen und vor allem in den Benediktinerklöstern erfreute sich diese
Heilbehandlung großer Beliebtheit. Spätestens im 9./10. Jahrhundert war die
Entnahme einer gewissen Menge Blut über die Vene so fester Teil des
monastischen Lebens, dass sogar Consuetudines, Regeln für sämtliche
Lebensbereiche im Kloster neben der eigentlichen Klosterregel, sich dem
Aderlass widmeten und Anweisungen zum Vorgehen, zum Zeitpunkt der Behandlung
und zur Dauer beinhalteten. So gibt es Consuetudines, die regeln, dass
ein Mönch innerhalb eines Jahres nur maximal dreimal zu Ader gelassen werden
darf, während andere Anweisungen bestimmen, dass der Aderlass nur nach der
Hauptmesse oder dem Mittagessen vorgenommen werden darf. Nicht selten sehen die
Consuetudines für den zur Ader gelassenen Bruder sogar Vergünstigungen
vor. Extra für das Aderlassen bereitgestellte, meist beheizte Klosterräume (calefactorium)
oder eigens für die Phlebotomie errichtete, separate Gebäude, die sogenannten
Aderlasshäuser (minutorium oder phlebotomaria) zeigen zudem, wie
sehr der Aderlass zum festen Teil des Klosterlebens geworden war.
Ausschnitt des St. Galler Klosterplans mit dem Aderlasshäuschen des Klosters
(https://de.wikipedia.org/wiki/St._Galler_Klosterplan#/media/File:Codex_Sangallensis_1092_recto.jpg)
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Die praktischen Erfahrungen der Klöster mit der Heilbehandlung des Aderlasses
gingen dann direkt über in die Lehre der ersten Hochschulen Europas im 13. und
14. Jahrhundert. Auf der universitären Ebene wurde der Aderlass nun weiter
praktiziert, zum 'Allheilmittel' erklärt und entwickelte sich schnell zum am
häufigsten durchgeführten chirurgischen Eingriff überhaupt.
Wie verlief jedoch die Aderlassbehandlung? Am häufigsten wurde der
Aderlass an den Armen, den Beinen oder am Hals von Kranken – Kinder ab drei
Jahren, Erwachsene (Frauen und Männer) und Greise wurden zur Ader gelassen –
vorgenommen. Dabei staute ein Arzt die zu behandelnde Vene mithilfe einer
Aderlassbinde, um dann in einem zweiten Schritt unter Zuhilfenahme eines
Aderlasseisens (fliete) die Vene zu schlitzen oder mit dem bickel,
einer Art Nadel, zu punktieren, sodass das Blut ablaufen konnte. Das entnommene
Blut wurde dann für die direkt an den Aderlass anschließende Blutschau bzw.
Hämatoskopie in einem kleinen Aderlassbecken aufgefangen. Nach dem invasiven
Eingriff wurde die punktierte oder geschlitzte Stelle verbunden.
Frühe eiserne Fliete
(https://de.wikipedia.org/wiki/Fliete#/media/File:Ironfleam_1201.JPG)
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Aufgrund
seiner Wertschätzung als 'Allheilmittel' wurde der Aderlass gegen die
unterschiedlichsten Krankheiten und Krankheitsbilder vorgenommen und jede zur
Phlebotomie geeignete Vene war mit spezifischen Anwendungsbereichen verbunden:
Während der Aderlass am Hals Linderung bei Zahnschmerzen oder Geschwüren im
Mundraum versprechen sollte, wurden Ellenbogenvenen geschlitzt oder punktiert,
um Schwindel, Krämpfe oder Epilepsie zu behandeln. Auch der Aderlass am Daumen
wurde vorgenommen. So beschreibt ein Phlebotomie-Traktat aus dem 15. Jahrhundert:
„Zwo audran sint vf dem dovmen an der rechten hand, so man sy lausset, das
ist guot für wetage des houptz vnd […] fur allui viefer, besunder fur daz
viertäglich viefer“ (Es gibt zwei Adern auf dem Daumen an der rechten
Hand, wenn man sie zur Ader lässt, ist das gut gegen die Schmerzen des Kopfes
und […] gegen alle Arten von Fieber, besonders gegen das viertägliche
Fieber). Das Aderlassen am Daumen wurde also augenscheinlich vorgenommen, um
Kopfschmerzen und Fieber zu behandeln. Aufgrund der vielen Lasspunkte, den
Körperstellen, an denen die Aderlassbehandlung möglich ist, entstanden zahlreiche
Aderlasstraktate und Aderlassbüchlein, in denen die Bedeutungen und
Wirkungsbereiche der einzelnen Lasspunkte aufgeführt wurden. Daneben kamen auch
die sogenannten Aderlassmännchen auf, die graphisch darüber unterrichteten, an
welchen Stellen die Ärzte und Chirurgen den invasiven Eingriff vornehmen sollten. Sie waren gleichsam eine Art Orientierungshilfe für den phlebomator, damit
dieser für eine schnelle Behandlung direkt die Aderlasspunkte auf dem Körper
des zu Behandelnden ermitteln konnte.
Allerdings wurde der Aderlass nicht nur gegen Krankheiten verwendet,
sondern durch die daran anschließende Hämatoskopie, wobei das entnommene Blut unter
anderem nach Farbe und Art der Blutgerinnung beurteilt wurde, war es manchmal
überhaupt erst möglich, Krankheiten zu diagnostizieren. Auch der Verfasser des
bereits zitierten Phlebotomie-Traktats 'Venarum minutio' gibt darüber
Auskunft: Es sei klug, zu wissen, „wie man an dem pluot, das man gelavsse
[…] krankhait oder gesunthait erkennen soell.“ Sei das Blut nach der
Phlepotomie etwa „wyß gestalt als des mentschen spaichel, das bedüt den
huosten vnd das der mentsch an der longun siech will werden.“ Weißes bzw.
farbloses Blut – vermutlich verursacht durch einen krankhaften Überschuss an
Leukozyten – galt also offensichtlich als Indikator für eine zukünftige
Lungenerkrankung, während braunscheckiges Blut auf eine Leberkrankheit
hinweisen würde. Innerhalb der Klöster wurde die Phlebotomie jedoch nicht nur
zur Diagnostik oder Behandlung von Krankheiten vorgenommen, sondern auch zur
prophylaktischen Blutreinigung oder als Mittel, das eine Verbesserung des
allgemeinen Wohlbefindens versprach. Zudem sahen die Mönche im Aderlassen eine
Möglichkeit der Entspannung, der körperlichen Betätigung und aufgrund der
häufig mehrmals im liturgischen Jahresablauf verankerten Behandlung eine Pflege
des Gemeinschaftsgeistes, weil die Mönche den Aderlass aneinander vornahmen.
Mit dem Beginn des 15. Jahrhunderts waren es vor allem die Klöster, die
sich mehr und mehr von der Phlebotomie abwendeten. Zu jener Zeit waren die
Chirurgie und damit verbunden eben der Aderlass auf einem so niedrigen Niveau
angesiedelt, dass die Geistlichen den Aderlass als nicht mehr würdig genug für
sich erachteten. Es waren mittlerweile nicht mehr nur die Klöster und
Universitäten, in denen der Aderlass praktiziert wurde, sondern im 15.
Jahrhundert ging diese 'niedere' Tätigkeit auf von der Wissenschaft nicht
akkreditierte Feldchirurgen, Wundärzte und Bader über. In diesem Zusammenhang entwickelte
sich das 'Schröpfen'. Dabei wurden keine Venen mehr punktiert oder geschlitzt,
sondern die Haut wurde leicht eingeritzt, wodurch nur eine geringe Menge Blut
entnommen werden konnte.
Noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts behielt der Aderlass seine
Stellung als häufigster chirurgischer Eingriff überhaupt und wurde bis dahin
noch von Medizinern und Badern gleichermaßen durchgeführt. Erst jetzt wurden
die mit der Phlebotomie verbundenen Komplikationen zum ersten Mal
zusammenfassend dargelegt. So seien Arterienverletzungen ebenso möglich, wie
schwerwiegende Entzündungen im Bereich der Einstichstelle oder eine Luftembolie
durch den Aderlass am Hals. In der modernen (Schul-)Medizin spielt die
Phlebotomie kaum noch eine Rolle.
Zum Weiterlesen:
- Becker, Peter; Overgaauw, Eef (Hgg.): Aderlass und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln, Mainz 2003.
- Goehl, Konrad; Mayer, Johannes Gottfried: Variationen über den Phlebotomie-Traktat 'Venarum minutio'. Die Vorlage des sogenannten '24-Paragraphen-Textes', in: Dies. (Hgg.): Editionen und Studien zur lateinischen und deutschen Fachprosa des Mittelalters. Festgabe für Gundolf Keil zum 65. Geburtstag (Texte und Wissen 3), Würzburg 2000, S. 45-66.
- Janzen, Jan: Der Aderlass. Eine monastische Tradition, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 110 (1999), S. 57-71.
- Keil, Gundolf: Ein Schlesisches Aderlassbüchlein des 15. Jahrhunderts. Untersuchungen zum funktionsbedingten Gestaltwandel des Vierundzwanzig-Paragraphen-Textes, in: Lena Vanková (Hg.): Fachteste des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit als Objekt der Fachsprachen- und Fachprosaforschung. Tradition und Perspektiven der Fachprosa- und Fachsprachenforschung (Lingua historisch Germania 7), Berlin 2014, S. 75-118.
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