Sonntag, 22. April 2018

Der Codex Buranus – und die Carmina Burana?!

Als der Historiker und Bibliothekar Johann Christoph Freiherr von Aretin im Jahr 1803 während der Säkularisation der bayrischen Klöster im Kloster Benediktbeuern auf eine Handschrift stieß, die er in einem Brief als „Sammlung von poetischen und prosaischen Satyren meistens gegen den päpstlichen Stuhl“ bezeichnete, entdeckte er damit die bedeutendste Sammlung mittellateinischer weltlicher Lyrik des Mittelalters: den Codex Buranus, der heute im Mittelpunkt unseres neuen kurz!-Artikels stehen soll. Es soll danach gefragt werden, wie die mittelalterliche Handschrift, die heute unter der Signatur Clm 4460 (und Clm 4460a) in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrt wird, entdeckt wurde, welche Texte sie überliefert und was sie so besonders macht.

Das heutige Titelblatt des Codex Buranus mit der Darstellung des Rades der Fortuna
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Wie Aretin selbst in einem Brief schreibt, bekam er im Jahr 1803 den Auftrag, „alle baierischen Abteyen zu bereisen, die Bibliotheken derselben zu durchsuchen, und die brauchbaren Bücher daraus für die hiesige Hof- und Nationalbibliothek (heute: BSB) auszuwählen“. Damit fiel auch die Bibliothek des Klosters Benediktbeuern in seinen Zuständigkeitsbereich. Neben zahlreichen anderen Handschriften entdeckte er dort einen Codex, der sonst in keinem der älteren Berichte über die Klosterbibliothek Erwähnung gefunden hatte. Vermutlich wurde die Existenz des Codex im Kloster aufgrund des Inhalts, den Aretin später als „gegen den päpstlichen Stuhl“ charakterisierte, geheim gehalten und die Handschrift selbst hinter verschlossenen Türen aufbewahrt. So berichtet Aretin, dass ihm im Kloster „ein eigenes Behältniss von verbotenen Büchern“ vorgesetzt wurde – ohne jedoch direkt darauf zu verweisen, dass auch die Handschrift sich in diesem Behältnis befand. Mit der Überbringung der Handschrift nach München begann dann die langsame Aufarbeitung des über Jahrhunderte unbekannten Codex, der erst jetzt nach seinem Fundort den Namen Codex Buranus (Handschrift aus Benediktbeuern) erhielt.

Kloster Benediktbeuern
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Beim Codex Buranus handelt es sich um eine Sammlung von über 300 mittelalterlichen Spielen, Liedern und Einzelstrophen, die eine außerordentliche inhaltliche Vielfalt zeigen. Verzeichnet sind neben Texten aus der Antike auch solche aus dem 11., 12. und 13. Jahrhundert. Die meisten dieser Texte können jedoch der Blütezeit der mittellateinischen Dichtung (12. und beginnendes 13. Jahrhundert) zugerechnet werden. Die Handschrift, die 112 Pergamentblätter umfasst, entstand vermutlich um 1230, wenngleich sich auch noch Nachträge bis zum Ende des 13. Jahrhunderts belegen lassen. Zwei Hauptschreiber verfassten diese Sammlung, während weitere Schreiber sich vor allem an der Abfassung von Nachträgen beteiligten. Da die meisten Texte des Codex dem südlichsten Bereich des deutschen Sprachraums zugerechnet werden können, sind zwei Entstehungsorte vorstellbar: Einerseits ist es möglich, dass die Handschrift am bischöflichen Hof in Seckau/Steiermark entstand, wo sie entweder von Bischof Karl. I (gest. 1230) oder seinem Nachfolger Heinrich I. (gest. 1243) in Auftrag gegeben worden sein könnte. Andererseits ließe sich auch eine Entstehung in Kärnten oder in Südtirol annehmen. 

Fest steht, dass das Schicksal der Handschrift auch schon im Mittelalter sehr wechselhaft war. Im Spätmittelalter war der Codex so schwer beschädigt, dass er im 15. Jahrhundert neu eingebunden werden musste. Diese Neubindung führte zu einer falschen Anordnung der Blattlagen, wodurch die ursprüngliche inhaltliche Gliederung der Urheber gestört wurde. Zudem gingen mehr als 24 Blätter, darunter auch der Eingangsteil der Sammlung, verloren. Auch das heutige Titelblatt der Handschrift, das eine Miniatur des Rades der Fortuna zeigt, wurde nur durch diese falsche Anordnung der Lagen zum Titelblatt, während es ursprünglich zum Innenteil der Sammlung gehörte. Bislang konnten sieben aus der Handschrift gelöste Blätter wiederentdeckt werden, die heute in der Bayrischen Staatsbibliothek unter der Signatur Clm 4660a als Fragmenta Burana aufbewahrt werden und mit zum Codex Buranus gezählt werden müssen. 

Nicht nur die Überlieferungsgeschichte des Codex Buranus ist besonders, sondern auch die inhaltliche und sprachliche Vielseitigkeit seiner Spiele, Lieder und Einzelstrophen, die den gesamten kulturellen Reichtum des Mittelalters sowie die Welterfahrung und das Lebensgefühl zur Zeit der Staufer widerspiegeln. Die insgesamt 315 Texte können unter inhaltlichen Aspekten vier großen Gruppen zugeteilt werden: Der Codex beginnt mit moralisierend-zeitkritischer Dichtung. Lieder über Habgier, Korruption, Simonie, Neid und Tugenden gehören hier ebenso dazu wie Lieder über Fortuna oder Kreuzzugslieder. Zur zweiten und größten Gruppe gehören Liebeslieder. Hier behandeln die Texte Themen wie Liebe und Verlangen, verbotene Liebesverhältnisse, Liebesleiden, Liebeswünsche und Liebeserfolge aber auch Liebesklagen auf ganz unterschiedliche Art und Weise: Mal begegnet man in den Liedern einer ehrfurchtsvollen Beschreibung der Schönheit und Tugendhaftigkeit einer Geliebten, dann wiederum kommt es zu detaillierten Beschreibungen des nackten Körpers. Mal preisen die Lieder den schon fast gewaltsamen Sieg über eine Geliebte oder den Liebesakt, während sich auf der anderen Seite auch Texte finden lassen, die sich eher durch ihre Zurückhaltung auszeichnen. Auch der Besuch eines reichen Jünglings in einem Bordell bzw. templum Veneris (Venustempel) wird mit viel Witz geschildert:


[...] Cum custode ianue    parum requievi;
erat virgo nobilis,    pulchra, statu brevi.
secum dans colloquia    in sermone levi
tandem desiderium    intrandi explevi. [...]



[...] Bei der Türhüterin gab es einen kleinen Aufenthalt: Sie war eine junge, vornehme Schönheit, zierlichen Wuchses und fähig, mit scherzhaft leichten Worten Rede und Antwort zu stehen. Zu guter Letzt erreichte ich, was ich wollte: Ich durfte hinein. [...]

»Que est causa, dicito,    huc tui adventus?
qualis ad hec litora    appulit te ventus?
duxit te necessitas    et tua iuventus?«
dixi: «necessario    venio detentus.


»Nenne mir Zweck und Anlaß deines hiesigen Aufenthalts! Welcher Wind hat dich an diese Küste getrieben? Sag, ob du aufgrund von Verpflichtungen angereist bist! Trieb dich die Notwendigkeit oder deine Jugend?«


Intus et exterius    asto vulneratus
a sagitta Veneris;    ex quo fui natus,
telum fero pectore    nondum medicatus.
cursu veni tacito,    quo sim liberatus. [...]



«Vor dir steht einer, der innerlich und äußerlich vom Pfeil der Venus verwundet ist; seit dem Tag meiner Geburt trage ich ihr Geschoß in meiner Brust. Weil ich noch nicht ärztlich versorgt bin, kam ich so eilig her, um von meinen Schmerzen befreit zu werden.» [...]


»Secretorum omnium    salus o divina,
que es dulcis prepotens    amoris regina,
egrum quendam iuvenem    tua medicina
procurare studeas,    obsecro, festina! [...]



»O göttliche Rettungsmacht, die du im Besitz aller Geheimnisse bist, liebliche, allmächtige Königin der Liebe, ich bitte dich, einen kranken Jüngling mit schneller Arznei von deiner Hand teilnahmsvoll zu versorgen!« [...]


Exuit se vestibus    genitrix Amoris,
carnes ut ostenderet    nivei decoris.
sternens eam lectulo    fere decem horis
mitigavi rabiem    febrici doloris.« [...]


Dann legte Amors Mutter ihre Kleider ab, so daß ihr schneeweißer, herrlicher Leib zum Vorschein kam. Ich drückte sie auf das Lager ungefähr zehn Stunden lang; das linderte den rasenden Fieberschmerz. [...]*

Ganze drei Monate soll sich dies zugetragen haben, bis der Jüngling dann entledigt von Münzen und Kleidern – schließlich verlangte Venus eine Entlohnung – den Venustempel verlassen muss. Insgesamt ist das Lied trotz des Witzes und der Distanzierung vom realen Geschehen durch die Mythisierung eine Warnung. So endet das Lied mit einer Mahnung vor der käuflichen Liebe im Speziellen und der luxuria im Allgemeinen. An die Gruppe der Liebeslieder schließen sich Trinklieder und Spielerlieder sowie Hofgedichte und Vagantenlieder (Vagant = umherziehender Sänger) an. Schließlich schließt der Codex Buranus mit geistlichen Dramen, dem Benediktbeurer Weihnachtsspiel und dem unvollständigen Spiel vom Ägypterkönig, sowie einigen Nachträgen.

Miniatur von Wurfzabelspielern im Codex Buranushttps://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/66/Wurfzabel.jpg

Viele dieser Lieder, Spiele und Einzelstrophen sind nur im Codex Buranus überliefert, während es zu anderen Parallelüberlieferungen gibt, denn vermutlich flossen zahlreiche Vorlagen und Kompilationen bei der Zusammenstellung der Sammlung in die Handschrift ein. Neben der inhaltlichen Vielfalt zeichnen sich die Texte durch ihre sprachliche Vielfalt aus: Auch wenn die meisten Texte in mittellateinischer Sprache abgefasst sind, gibt es neben 47 mittelhochdeutschen Einzelstrophen noch altfranzösische Verse und einen griechischen Refrain. Daneben sind auch lat.-dt. oder lat.-frz. Mischtexte überliefert. Einige der Lieder zeigen sogar Neumierungen (Zeichen, die seit dem 9. Jahrhundert zur Notation von Melodien verwendet wurden) und gerade bei den mittelhochdeutschen neumierten Liedern spricht man von den ältesten überlieferten Melodieaufzeichnungen. Eine weitere Besonderheit des Codex Buranus ist die Anonymität der Texte. Zwar lassen sich viele Lieder bekannten Autoren zuordnen (bspw. Ovid, Otloh von St. Emmeram, Archipoeta, Hilarius von Orléans, Walther von der Vogelweide, Neidhart etc.), aber bis auf eine Ausnahme in den Nachträgen werden keine Autoren namentlich genannt. Damit steht der Codex Buranus im Kontrast etwa zum Codex Manesse, dessen Lieder nicht nur nach den Autoren gegliedert sind, sondern in dem auch namentlich und durch Illustrationen auf diese hingewiesen wird. 

Trotz der vielseitigen Besonderheit des Codex Buranus gab es lange Zeit keine Rezeption der Handschrift als Sammlung. Bekannt dürfte vor allem die Kantate Carmina Burana von Carl Orff sein, die 1937 uraufgeführt wurde und die Lieder der Handschrift einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machte. Vor allem der imposante Chorsatz Fortuna Imperatrix Mundi, mit dem die Kantate beginnt, ist heute äußerst populär. Irreführend ist an der Kantate vor allem ihr Titel Carmina Burana (Lieder aus Benediktbeuern), der auf eine 1847 veröffentliche Edition der Texte durch Johann Andreas Schmeller zurückgeht. Denn der Titel suggeriert eine Entstehung der Lieder im Kloster Benediktbeuern, obwohl für keinen der überlieferten Texte eine Entstehung in Benediktbeuern angenommen werden kann. 

Die enorme Besonderheit des Codex Buranus steckt vor allem in der Fülle der Texte, die nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich eine außerordentliche Vielfalt bieten: Geistliches steht Weltlichem gegenüber, heidnische Mythen der Antike folgen auf Texte mit biblischen Bezügen und moralische Ratschläge finden sich ebenso wie der Ausdruck von Lebenslust. Damit ist die Handschrift ein Zeugnis für die mittelalterliche Lebenswirklichkeit und den kulturellen Reichtum des häufig zu vorschnell als 'dunkel' bezeichneten Mittelalters.



*Text und Übersetzung aus: Carmina Burana. Texte und Kommentare, hg. von Benedikt Konrad Vollmann (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 49), Berlin 2011, S. 257-263.


Zum Weiterlesen:
  • Aretin, Johann Christoph von: Briefe über meine literarische Geschäftsreise in die baierischen Abteyen, in: Ders. (Hg.): Beyträge zur Geschichte und Literatur vorzüglich aus den Schätzen der pfalzbaierischen Centralbibliothek München, Band 1, München 1803, Brief 1: V, S. 87-93; Brief 6: IV, S. 70-77.
  • Bernt, Günter: Art. Carmina Burana, in: 2VL 1 (1978), Sp. 1179-1186.
  • Malm, Mike: Art. Carmina Burana, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter 4 (2012), Sp. 214-224.
  • Schaller, Dieter: Art. Carmina Burana, in: Lexikon des Mittelalters 2 (1983), Sp. 1512-1515.

2 Kommentare:

  1. Hallo, ich habe gerade in Musikwissenschaft eine Hausarbeit über Carmina Burana (die Handschrift clm 4660/4660a) geschrieben, und finde, dass ihr hier eine interessante und gut verständliche Zusammenfassung geschrieben habt!

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    1. Vielen Dank für diese positive Rückmeldung! So macht es doch gleich viel mehr Spaß, kurz!-Artikel zu schreiben.
      Wir hoffen, dass auch zukünfitg viele interessante Artikel für dich dabei sein werden.

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