Sonntag, 29. Mai 2016

Die Wundervölker des Ostens*

Im Jahr 1493 veröffentlicht der Humanist und Historiker Hartmann Schedel (1440–1514) seine Weltchronik. Von der Erschaffung der Welt bis in seine eigene Gegenwart gliedert Schedel die Weltgeschichte in insgesamt sieben Weltalter – samt Ausblick auf das Jüngste Gericht. Dabei geht es ihm nicht allein um die Wiedergabe historischer Ereignisse, auch Wunderberichte und Sensationsmeldungen finden Platz in seinem monumentalen Werk. 

Auf eine der seltsamsten Stellen des Werkes trifft der Leser direkt nach dem Bericht über die Sintflut: Rechts und links vom Text finden sich Holzschnitte, auf denen 14 Vertreter ganz absonderlich aussehender Völker abgebildet sind, die in den entlegenen Regionen „india“ und „ethiopia“ leben sollen (Abb. 1, Blatt XIIr). Glaubt man den Holzschnitten, dann geht es skurril zu dort am Rande der Welt: Manche Bewohner haben so große Ohren, dass sie damit ihren ganzen Körper bedecken können. Andere Wesen tragen auf ihrem Menschenkörper einen Hundekopf und können deshalb nur bellen. Auch Wesen mit Kranichhälsen und Schnäbeln sollen das Ende der Welt bevölkern. Hartmann Schedel hat sich diese wundersamen Wesen nicht selbst ausgedacht, sondern zusammengetragen, was er bei anderen Autoren über ihre Existenz gelesen hat. Schedel ist Glied in einer langen Kette literarischer Berichte über die Bewohner entlegener Erdregionen. Doch wo liegen die Wurzeln der Vorstellung, die Ränder der Welt seien von monstra, also deformierten Wesen, bewohnt?

Wundervölker im Liber chronicarum von Hartmann Schedel, fol. 12r (© BSB München, INK S-195)
http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00034024/image_94 

Die Suche nach der Antwort auf diese Frage führt ins antike Griechenland des 4. Jahrhunderts v. Chr. Damals verfasst der griechische Geschichtsschreiber Ktesias von Knidos, der zum Leibarzt des persischen Großkönigs Artaxerxes Mnemon aufsteigt, einen kleinen Text über Indien (Indiká). Darin berichtet er von vielen seltsamen Wesen, die in Indien leben sollen. So erwähnt er zum Beispiel erstmals das Volk der handeltreibenden Hundsköpfigen – auch in der Schedelschen Weltchronik ist ein Vertreter abgebildet. Daneben berichtet Ktesias von Knidos vom Volk der kleinwüchsigen Pygmäen, vom Volk der Achtfingrigen und von der marticora, einer Bestie mit Menschenantlitz und einem giftigen Stachel. Damit ist der Grundstein gelegt für das Bild, das man sich im Mittelmeerraum von den wundersamen Völkern des Ostens macht. Durch Megasthenes, einen ionischen Gelehrten aus Kleinasien und Indienreisenden, wird der Stammbaum der monstra noch um ein paar zusätzliche Äste erweitert: Mal tragen die verschiedenen Menschenwesen Hundeohren, mal fehlen ihnen Mund oder Nasenlöcher.

Besonders im westlichen Mittelmeerraum, wo man kaum neue Informationen über Indien erhält, bleiben auch in der Spätantike die Werke des Ktesias und des Megasthenes die wichtigsten Informationsquellen für Geographie und Völker des Fernen Ostens. Die beiden christlichen Autoren Augustinus und Isidor von Sevilla wiederholen die Aufzählungen der monströsen Völkerschaften. Mit dem Aufstieg des Christentums kommt jedoch eine neue intellektuelle Dynamik in die Auseinandersetzung mit den Erdrandvölkern: Die christlichen Denker stehen angesichts der Berichte über die monstra vor der Herausforderung, die Existenz dieser Wesen im göttlichen Schöpfungsplan theologisch nachvollziehbar zu erklären.

Die Bibelgelehrten finden schließlich im Alten Testament eine Geschichte, mit der sich die Herkunft der deformierten Erdrandsiedler plausibel erklären lässt. Das Erste Buch Mose berichtet von Ham, einem Sohn Noahs, der die Nacktheit seines betrunkenen Vaters entdeckt. Ham verhüllt ihn jedoch nicht, sondern ergötzt sich an dem Anblick. Als Noah erwacht, verflucht er Kanaan, den Sohn des Ham: „Verflucht sei Kanaan. Der niedrigste Knecht sei er seinen Brüdern“ (1. Mose 9,25). Das deformierte Äußere der Wundervölker wird auf Basis der Ham-Geschichte als sichtbares Zeichen der Verfluchung durch Noah gedeutet. Gleichzeitig werden die Wundervölker dadurch zu Nachfahren Noahs – also zu Menschen. Eine Auffassung, der mittelalterlichen Theologen aber auch vehement widersprechen.

Während also das Alte Testament die Ursprünge der exotischen Wundervölker erklärt, bereitet die Auslegung des Neuen Testaments in diesem Zusammenhang Schwierigkeiten. Wiederholt findet sich in den Evangelien der Auftrag, das Evangelium in der ganzen Welt zu verkünden. Ein Befehl mit drastischen Konsequenzen: „Und es wird gepredigt werden dies Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker, und dann wird das Ende kommen“ (Mt. 24,14). Aus der Bibelexegese ergeben sich für den Status der monstra zwei Möglichkeiten: Sind die deformierten Völkerscharen am Rand der Welt Menschen, so erwarten sie dort ihre Bekehrung zum Christentum. Ist jedoch das Evangelium bis zu den letzten monstra vorgedrungen, so gibt es natürlich niemanden mehr zu bekehren – und die Apokalypse wird beginnen. Sind sie dagegen nicht-menschliche Dämonenwesen, so steht zu befürchten, dass sie schlussendlich die apokalyptischen Heerscharen des Antichristen bilden werden. In beiden Fällen stehen die Wundervölker also im direkten Bezug zur drohenden Endzeit.

Die frühmittelalterlichen Gelehrten begegnen dieser latenten Bedrohung durch die Wundervölker mit einer literarischen Strategie: Die Wundervölker werden im Rahmen zweier Erzähltraditionen eingedämmt und so ihres bedrohlichen Charakters entkleidet. Die romanhaften Biographien Alexanders des Großen stellen die erste Tradition dar: Alexander habe eigenhändig die Endzeitvölker im Kaukasus eingesperrt, wo sie darauf warten, als Heerscharen des Antichristen das Jüngste Gericht einzuläuten. Damit ist zumindest der korrekten heilsgeschichtlichen Reihenfolge genüge getan – denn dass die Apokalypse kommen müsse, daran besteht im Mittelalter aus theologischer Sicht kein Zweifel. Die zweite Erzähltradition bildet die Legende vom Priesterkönig Johannes, der angeblich irgendwo im Osten über ein mächtiges christliches Reich regiere und dem die monstra als Krieger unterstellt seien. Damit geht von diesen Völkern natürlich keine Bedrohung für die christliche Welt mehr aus – ganz im Gegenteil! Unter dem Kommando des Priesterkönigs kämpfen die einst bedrohlichen Völker nun gegen die muslimischen Feinde.

In der Mitte des 13. Jahrhunderts erlangen die monströsen Endzeitvölker plötzlich erschreckende Realität: Aus Zentralasien dringen die Mongolen nach Westen vor und versetzen das christliche Abendland in Aufruhr. Nicht wenige christliche Kämpfer sehen sich im Kampf mit den Mongolen den apokalyptischen Heerscharen gegenüber. Doch die Mongolen ziehen sich überraschend wieder zurück. Sofort beginnt in Europa die systematische Aufarbeitung des Mongolen-Traumas. Die mongolischen Feinde werden zunehmend mit kritischem Sachverstand beurteilt und entdämonisiert. Gleichzeitig gelangt man aber auch zu der Einsicht, dass es sich bei den Mongolen nicht um monstra handeln könne.

Doch dem Glauben an die Existenz der monströsen Völker tut diese Einsicht keinen Abbruch. Wenn es die Mongolen nicht sind, müssen die Wundervölker eben anderswo zu finden sein. Tendenziell verlieren die Endzeitvölker jedoch ihre heilsgeschichtliche Bedeutung: Zwar geht man weiterhin von ihrer Existenz aus, doch traut man ihnen nicht mehr zu, tatsächlich als Boten der Apokalypse die Christenheit zu bedrohen. Im 14. Jahrhundert werden die Wundervölker zu allegorischen Wesen umfunktioniert, so etwa in den moralisierenden Erzählungen in den Gesta Romanorum: „So sind in Libyen gewisse Frauenzimmer, die keinen Kopf, aber Maul und Augen auf der Brust haben. Diese Weiber bedeuten die Menschen, welche demütig Gehorsam mit der Brust leisten wollen, aber kein leichtfertiges Herz haben und alles, was sie äußerlich tun wollen, vorher wohl und klüglich in ihrem Herzen bedenken.“ (zit. nach Perrig, S. 44) Insgesamt setzt mit der Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit ein Prozess der Entmythologisierung ein: Im 15. Jahrhundert stoßen portugiesischen Entdecker in Ostafrika auf Äthiopien, ein christliches Reich. Doch regiert hier kein mächtiger Priesterkönig und auch die erhofften Reichtümer finden die portugiesischen Entdecker nicht.

Die Schedelsche Weltchronik mit ihrer Aufzählung der verschiedenen Wundervölker ist Zeugnis einer Umbruchszeit in der Wahrnehmung und Interpretation dieser monströsen Völker. Das zeigt auch ein zweiter Blick auf die Holzschnitte: Die einzelnen Wesen wirken wenig bedrohlich, vielmehr strahlt ihre Körperhaltung Ruhe und Zurückhaltung aus. Eine apokalyptische Bedrohung hat der Gestalter der Holzschnitte in ihnen nicht mehr gesehen.

Zum Weiterlesen:
- Antunes, Gabriela/Reich, Björn: (De)formierte Körper, die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter: Eine Einleitung, in: Antunes, Gabriela/Reich, Björn (Hg.): (De)formierte Körper. Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter 1, Göttingen 2012, S. 9-30.
- Friedman, John Block: The Monstrous Races in Medieval Art and Thought. Cambridge/London 1981.
- Perrig, Alexander: Erdrandsiedler oder die schrecklichen Nachkommen Chams. Aspekte der mittelalterlichen Völkerkunde, in: Koebner, Thomas/Pickerodt, Gerhart (Hg.): Die andere Welt. Studien zum Exotismus, Frankfurt am Main 1987, S. 31-87.
- Scior, Volker: Monströse Körper: Zur Deutung und Wahrnehmung von monstra im Mittelalter, in: Antunes, Gabriela/Reich, Björn (Hg.): (De)formierte Körper. Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter 1, Göttingen 2012, S. 31-49.
- Steinicke, Marion: Apokalyptische Heerscharen und Gottesknechte. Wundervölker des Ostens in abendländischer Tradition vom Untergang der Antike bis zur Entdeckung Amerikas, Berlin 2002.
- Wittkower, Rudolf: Marvels of the East. A Study in the History of Monsters, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 5 (1942), S. 159-197.

*Dieser Artikel stammt von Gastautor Max Emanuel Frick. Max Emanuel hat Geschichte und Germanistik in München und Leeds studiert. Aktuell bereitet er ein Promotionsprojekt im Bereich der Geschichte des Hochmittelalters vor. Außerdem bloggt er unter https://curiositas-mittelalter.blogspot.de/ über alles zum Thema Mittelalter.

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