Sonntag, 8. Februar 2015

Der Serienmörder Gilles de Rais

Am 26. Oktober 1440 wurde der Serienmörder Gilles de Rais gehängt, verbrannt und anschließend von vornehmen Damen seines Hauses bestattet. Laut Anklageakte soll de Rais "nicht nur zehn, auch nicht zwanzig, aber dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig, hundert" oder noch viel mehr Kinder getötet haben, meistens zusammen mit mehreren Komplizen – die genaue Anzahl wurde nie aufgeklärt. Gilles de Rais gab vor Gericht an, dass er und seine Komplizen die Kinder auf grausamste Art und Weise quälten: Sie köpften die Kinder, schlugen mit Stöcken auf sie ein, vergewaltigten sie und vergingen sich an den bewusstlosen, im Sterben liegenden oder bereits gestorbenen Mädchen und vorzugsweise Jungen. Anschließend wurden seine Opfer verbrannt. In der Anklagen wurde ihm Sodomie, Nekrophilie, Sadomasochismus und weitere Paraphilien sowie Häresie und Mord in mehr als hundert Fällen zur Last gelegt.
In diesem Artikel gehen wir auf die Suche nach den Gründen für Gilles de Rais‘ abnormales Verhalten und betrachten diesbezüglich verschiedene Erklärungsansätze. Außerdem sehen wir uns mit der Frage konfrontiert, ob de Rais diese Verbrechen tatsächlich begangen hat oder ob er Opfer eines ganzen Systems wurde, denn erst 1992 wurde er von einem Gericht in Frankreich für unschuldig befunden.


Als Gilles de Montmorency-Laval, Baron de Rais, zum Jahresende 1404 auf dem Schloss Champtocé an den Ufern der Loire bei Angers geboren wurde, war sein Weg vorbestimmt: Der Sohn von Guy de Laval und Marie de Craon gehörte einer der reichsten Familie Frankreichs an. Er wurde von zwei geistlichen Hauslehrern unterrichtet und lernte so Lesen, Schreiben und Latein. Im Alter von 11 Jahren, im Jahr 1415, starben seine Eltern kurz nacheinander und Gilles‘ Leben sollte sich vollkommen verändern. Sein Großvater Jean de Craon übernahm die Vormundschaft, obwohl Gilles‘ Vater Guy vor seinem Tod alles versucht hatte, um dies zu verhindern, denn der unmoralische Lebensstil des Großvaters bereitete ihm große Sorgen. Diese Sorgen waren nicht unbegründet: Gilles wurde in den nachfolgenden Jahren sich selbst überlassen und sein Großvater brachte ihm die Welt der Verbrechen stetig näher. Im Alter von 23 Jahren trat er in die Armee von Anjou ein und kämpfte an der Seite von Jeanne d’Arc im Hundertjährigen Krieg. Bereits zu dieser Zeit wurde seine Hemmungslosigkeit und Gewaltbereitschaft im Krieg geschätzt. Als sein Großvater am 15. November 1432 starb, begann die unglaubliche Serie der Kindermorde.

Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d8/Gillesderais1835.jpg

Gilles de Rais arbeitete mit mehreren Komplizen zusammen. Ihre Opfer waren Kinder aus sozial schwächeren Familien, die es nicht wagten, ihre Anschuldigungen gegen einen Feudalherren vorzubringen oder denen einfach nicht zugehört wurde. Unter dem Vorwand, dass Gilles als französischer Marschall neue Arbeitskräfte brauche, wurden die Kinder gelockt und auf seinem Anwesen oder anderen Ländereien bestialisch gequält, sexuell missbraucht und getötet.
Doch hätte Gilles de Rais nicht einen entscheidenden Fehler begangen, wären die Morde wahrscheinlich nie aufgeklärt und er nie verurteilt worden. Ein länger andauernder Streit mit einem Geistlichen wurde ihm zum Verhängnis, als er ebendiesen in der Kirche von Saint-Étienne-de-Mer-Morte gefangen nahm und verprügelte, wodurch er das Kirchengebiet und -recht verletzt hatte. Der Bischof von Nantes begann daraufhin Untersuchungen und deckte die schrecklichen Taten de Rais‘ auf, sodass dieser und seine Komplizen vier Monate nach dem Streit mit dem Geistlichen verhaftet wurden.

Quelle: http://mw2.google.com/mw-panoramio/photos/medium/86193339.jpg
 Das Schloss der Familie de Rais: Champtocé-sur-Loire. Hier ermorderten de Rais und seine Komplizen einen Großteil der Kinder.

Was aber machte einen vornehmen Menschen, der in einer der reichsten und bedeutendsten Familien der Feudalgesellschaft jener Zeit aufgewachsen war und von zwei geistlichen Hauslehrern unterrichtet wurde, einen französischen Marschall, der an der Seite Jeanne d’Arcs im Hundertjährigen Krieg kämpfte, zu einem skrupellosen Serienmörder?

Gilles de Rais war homosexuell, was sich auch in seinen Gewalttaten äußerte, da seine Opfer meist Jungen waren. Homosexualität wurde im Mittelalter besonders von der Kirche tabuisiert, aber auch von der Gesellschaft und dem Staat scharf verurteilt. Der Staat setzte dieses „Verhalten wider die Natur“ auf dieselbe Stufe mit schweren Gewaltverbrechen. Dies ging sogar so weit, dass das Töten der Kinder weniger scharf verurteilt wurde als die unnatürliche Unzucht. Er konnte seine sexuellen Vorlieben also nicht frei ausleben, glitt dadurch in die menschliche und gesellschaftliche Isolation und lebte unter großem Druck. Aufgrund dieses Drucks suchte de Rais sich einen Ausweg aus seiner Isolation und legitimierte diesen Weg nach seinen Vorstellungen. Er fühlte sich durch die „verführerisch gekleideten“ Jungen zu seinen Sünden verleitet und sah darin den Grund für seine Isolation und seine nicht mit der Gesellschaft zu vereinbarenden Sexualität. Seiner Auffassung nach tötete er nicht entgegen der Gesetze, sondern im strengen Einklang mit diesen und der Moral der französischen Nation. Der Franzose hielt seine Opfer durch ihre verführerische Lebensweise und deren in „Müßiggang“ lebenden Familien für verurteilenswert und übte sich in Selbstjustiz. De Rais sah bei seinem Vorgehen auch Kirche und Staat auf seiner Seite und legitimierte mit diesem Glauben sein Handeln. Als Legitimation für seine Taten nutzte er ebenfalls seine Erziehung durch den Großvater, der de Rais in die Welt der Kriminalität eingeführt hatte – für ihn war dies eine Zeit des Müßiggangs. 
Die Morde können aus dieser Sicht letztlich sowohl als Hilfeschrei und auch als Klage an die Moral der französischen Gesellschaft gesehen werden. Die scharfe Tabuisierung der Homosexualität gipfelte für de Rais in einem Konflikt, den er nicht friedlich lösen konnte.

Einen anderen Erklärungsansatz liefert die Transgressionstheorie oder auch Überschreitungstheorie. Diese besagt, dass das Überschreiten einer Grenze, die durch Tabus, Verbote oder bestimmte Moralvorstellungen festgelegt wurde, eine Faszination auslöst, nach der die Menschen streben. Gilles de Rais verlor mit seiner fehlerhaften Erziehung das Gespür für solche Grenzen und Verbote. Bei der Überschreitung der Grenze verfällt der Grenzüberschreiter in eine Art Rausch, der ihn abhängig macht. Dieser Rausch oder auch Suchtzustand führt zu immer wiederkehrenden transgressiven Handlungen. Transgression geht zumeist mit einer erhöhten Gewaltbereitschaft einher. Zum Erreichen dieses Rauschzustandes und zum Aufsprengen der festgelegten Grenzen brachte de Rais alle Kraft auf, wodurch seine äußerst aggressiven Handlungen zu erklären sind. Nachdem er die Grenzen überschritten hatte, konnte er die absolute Freiheit, die er sich selbst erschuf, abseits der gesellschaftlichen Moral genießen.
Die Theorie umschließt auch eine Verbindung von Gewalt und Sexualität, die bei de Rais besonders zur Geltung kam. Die entführten Kinder steigerten seine Lust, die sexuelle Gewalt wurde für ihn zum Alltag und gipfelte in einem Suchtzustand, wodurch er nicht aufhören konnte zu morden. Gilles de Rais war sich bis zuletzt keiner Schuld bewusst, da er davon überzeugt war im Namen Gottes zu handeln. Die Anlehnung an Gott ist ebenfalls ein Transgressionsaspekt: Das Nachdenken über Sexualität ist laut Theorie auch immer mit dem Nachdenken über Gott verbunden; das große Ziel der Überschreitung im Zusammenhang mit der Sexualität und dem Glauben sei die Erotik, die de Rais beim Missbrauch und Morden empfand.

Seit dem Jahr 1992 gilt Gilles de Rais aber wieder als unschuldig: Jean-Yves Goëau-Brissonnière, der Großmeister der französischen Freimaurerloge, berief eine Untersuchungskommission, bestehend aus ehemaligen französischen Ministern, UNESCO-Experten und Parlamentsmitgliedern, ein, um den Fall des Gilles de Rais neu aufzurollen. Die im mittelalterlichen Prozess gegen de Rais vorgebrachten Anschuldigungen wurden entkräftet, denn sie konnten damals nicht mit entsprechendem Beweismaterial belegt werden. Auf seinem Anwesen konnten demnach weder Leichen noch Knochen gefunden werden. Er habe die Verbrechen in der Hoffnung gestanden einer Hinrichtung zu entgehen; zusätzlich hatte er während des Verhörs sein Geständnis nur unter Folter abgelegt. Die damaligen Anschuldigungen seien Falschaussagen anderer Lords gewesen, um von Gilles‘ Hinrichtung zu profitieren, da sie seine Ländereien übernehmen wollten. Die Aussagekraft dieser Untersuchung darf aber bezweifelt werden, denn das Team aus Anwälten und Politikern unter dem Vorsitz von Richter Henri Juramy, welches ihn für unschuldig erklärte, wurde weder von einem Historiker noch einem Mittelalterspezialisten betreut, sodass die historischen Umstände außer Acht gelassen wurden.

Die Geschichte Gilles de Rais‘ liefert uns einen Blick in die französische Gesellschaft und ihre Moralvorstellungen Mitte des 15. Jahrhunderts. Die scharfe Tabuisierung der Homosexualität in Kombination mit den Grenzüberschreitungen, die einen rauschhaften Zustand auslösten, machte Gilles de Rais höchstwahrscheinlich zu einem Serienmörder. Auch die missglückte Erziehung durch seinen Großvater, der ihn in die Welt der Verbrechen eingeführt hatte, und die Grausamkeiten des Krieges spielten in de Rais‘ Leben eine große Rolle. Nicht zuletzt bleibt zu betonen, dass Gilles de Rais auch ein Opfer seiner Zeit war: Ohne die Tabuisierung und das Verbot der Homosexualität wäre er wohl nicht zu einem Serienmörder geworden, da er seine Vorlieben auf eine legale Art und Weise hätte ausleben können.


Literatur:
George Bataille, Gilles de Rais. Leben und Prozess eines Kindermörders, Gifkendorf 2006.
Jean Benedetti, The Real Bluebeard. The Life of Gilles de Rais, Stroud 2003.

4 Kommentare:

  1. Ein interessanter Artikel, dankeschön! :)

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  2. Informativ, aber was ist mit der mehrmals erwähnten Floskel "der ihn in die Welt des Verbrechens einführte" genau gemeint ?

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    1. Über Jean de Craon, den Großvater von Gilles, ist nicht sehr viel bekannt. Über seinen Charakter weiß man, dass er immer darauf aus war, aus jeder Situation seinen eigenen Nutzen zu ziehen - gerne auch mit Hilfe illegaler Mittel.
      Ein paar Beispiele: Reisende und Händler, die das Land von Jean de Craon durchquerten, mussten einen viel zu hohen Zoll zahlen. Wollten oder konnten sie diesen nicht zahlen, wurden sie verprügelt, ausgeraubt und vom Land vertrieben. In der regionalen Politik wechselte er ständig die Seiten, um möglichst großen Erfolg für sich zu verbuchen. Die Höfe seiner eigenen Vasallen wurden auf seinen Befehl hin ausgeraubt. Kleinkriminelle Tätigkeiten wie die Organisation illegaler Hundekämpfe oder das Fälschen von Urkunden fanden regelmäßig statt.

      Da Jean de Craons Leben von der Gier nach dem möglichst größten Profit für sich selbst geprägt war, kam Gilles de Rais fast "automatisch" in Kontakt mit den kriminellen Machenschaften seines Großvaters. Zudem war Gilles durch den Tod seiner Eltern schon früh in einer verantwortungsvollen politischen Position, zumindest theoretisch, denn sein Großvater traf letztlich die wichtigen Entscheidungen. Gilles war als Repräsentant seines Hauses immer anwesend, wenn sein Großvater rücksichtslos versuchte, seine Interessen durchzusetzen. Sein Großvater war in seiner Jugend das einzige Vorbild.

      Zusammenfassend kann man sagen, dass Jean de Craon eine kriminelle Person war, die seinen Enkel in höchstem Maße negativ beeinflusste. Die beiden im Artikel zitierten Werke nennen sowohl Gilles de Rais bereits in seiner Kindheit und Jugend als auch seinen Großvater einen Tyrannen. Gilles' Leben nach dem Tod seiner Eltern glitt immer mehr in die Kriminalität hinab.

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