Der Reisebericht eines Geistlichen über Indien und China
„Seine Vornehmheit besteht darin, lange Fingernägel zu besitzen. Manche Leute lassen ihre Daumennägel so lange wachsen, dass sie damit ihre Hände umschließen können. Die Schönheit der Frauen aber besteht darin, kleine Füße zu haben; daher haben die Mütter die Gewohnheit, ihren Töchtern nach der Geburt die Füße einzubinden, die sie ihnen dann nicht mehr wachsen lassen.“ (nach: Die Reise des seligen Odorich von Pordenone nach Indien und China (1314/18-1330). Übersetzt, eingeleitet und erläutert v. Folker Reichert, Heidelberg 1987, Kap. XXXIV, 2.)
Dieser exemplarische Ausschnitt aus dem Reisebericht von Odorich von Pordenone beschreibt einen Teil seiner Erfahrungen auf seiner Reise nach Indien und China. Reiseberichte sind eine überaus wichtige Quellengattung, die es möglich macht, auch die Weltsicht eines Reisenden zu betrachten und entschlüsseln. Wie verhalten sich fremde Völker? Wie sehen die Landschaften unbekannter Länder aus? Inwiefern unterscheidet sich die fremde Kultur von der eigenen? Diese und viele weitere Fragen lassen sich anhand von Reiseberichten beantworten. Doch wie jede andere Quellengattung auch müssen die Reiseberichte mit Vorsicht betrachtet werden. Dieser Artikel setzt sich mit den Problemen und den Chancen auseinander, die die Interpretation von Reiseberichten mit sich bringt. Exemplarisch für die Entstehung eines Berichts, die Reise und ihre Beschwerlichkeiten, die Beobachtungen und Abenteuer sowie die Reisenden selbst, steht hier der Reisebericht von Odorich von Pordenone.
Gerade aus dem Spätmittelalter gibt es eine Vielzahl von Reiseberichten. Die Anzahl der Leser rechtfertigt das Niederschreiben der Abenteuer, Sehenswürdigkeiten und Kuriositäten. Die Reiseberichte dienten nicht nur der Informationsweitergabe und somit anderen potentiellen Reisenden, vielmehr waren sie auch ein literarisches Konzept: Exotische Geschichten von fremden Ländern und Völkern und Mirakelberichte unterhielten die Leser. Nicht selten wurden die Geschichten der Reise vor einem Publikum erzählt, denn Geschichten aus einer für sie anderen Welt glichen märchenhaften Erzählungen. Die Berichte selbst wurden kopiert, in verschiedene Sprachen übersetzt, häufig bearbeitet und vor allem auch kompiliert, sodass eine weite Verbreitung der Texte üblich war. Doch hier liegt gleichzeitig auch ein Problem der Reiseberichte als Quellen: Das Streben der Autoren, die an diesem Erfolg der exotischen Reisebereichte teilhaben wollten, führte dazu, dass immer mehr Berichte mit Fiktionen versehen wurden. Dabei wurden Teile von originalen Berichten vollständig übernommen oder ganze Berichte frei erfunden, und dies macht es den Historikern heute um ein Vielfaches schwieriger zwischen Original und Fälschung zu unterscheiden.
Die Reisenden selbst sahen sich vielen Problemen ausgesetzt: Neben den Risiken langer Reisen (Krankheiten, mangelnde Hygiene, usw.), gab es in fremden Ländern immer Verständigungsprobleme und Missverständnisse. Die Verständigungsbarriere führte auch dazu, dass dem Reisenden in seinem Bericht entweder die passenden Wörter fehlten oder dass er ganz einfach alles verschwieg, was ihn irritierte und er nicht erfragen konnte. Demnach hat keine Reise so stattgefunden, wie sie letztlich aufgeschrieben wurde. Eine historische Quellenkritik ist daher immens wichtig.
Wie bereits genannt, wurden die Erfahrungen einer Reise einem Publikum vorgetragen. Wer aber las eigentlich die Berichte? Die in den Reiseberichten immer wieder auftauchenden miracula (von Gott bewirkte Wunder) oder mirabilia (wundersame Ereignisse, die enträtselt werden können) waren besonders für die Geistlichen interessant und regten zu Diskussionen an. Daneben beeinflussten die Erzählungen von unbekannten Ländern und Völkern natürlich die Sicht der Gelehrten, die anhand dieser Informationen das ihnen bekannte Weltbild ergänzen oder erneuern konnten. Bis dieses neue Wissen jedoch Einzug in Enzyklopädien und Karten finden konnte, vergingen durchaus Jahrhunderte, weil die Gelehrten die Reiseberichte gerne bestätigt wussten. Erst im 14. Jahrhundert wurde auch auf ältere Reiseberichte zurückgegriffen und deren Informationen in die Karten mitaufgenommen.
Odorich/Odorico von Pordenone (*1265 oder 1285/86 in Villanova nahe Pordenone, einer Stadt in Norditalien) ist ein Musterbeispiel für die Entstehung eines solchen Reiseberichts. So ist auch hier nicht immer deutlich, ob er alles tatsächlich so erlebt hat, wie es im Reisebericht beschrieben wird. Er kannte unter anderem Marco Polos Reisebericht und es ist nicht auszuschließen, dass er gewisse Ideen von ihm in seinen Bericht übernahm. Als Mönch lebte Odorich in strenger Askese im Franziskanerkonvent in Udine, bis er als Missionar dann entweder um 1314 oder um 1318 über den Seeweg nach Indien segelte. Eine Legende besagt, Odorich habe als Missionar über 20000 Heiden in Asien innerhalb von 16 Jahren zum Christentum bekehrt. Doch Odorich selbst berichtet in seinem Reisebericht nichts von seiner eigenen Missionstätigkeit, denn er scheint die Geschehnisse der Reise für berichtenswerter empfunden zu haben. Dies zeigt sich auch in seiner Reisedauer, denn der ganze Bericht zeugt von einer ruhigen Reise, während der sich Odorich stets viel Zeit ließ. So kam er erst nach drei Jahren in Thana (nahe Bombay) an. Der Aufenthalt in Indien war aber nur von kurzer Dauer, da Christenverfolgungen immer häufiger wurden und Odorich sich nicht sicher fühlte. Sein Bericht über die Reisewege ist bedauerlicherweise lückenhaft, sodass erst wieder seine Ankunft in Khanbaliq (Peking) sicher belegt ist. Dort war er Teil einer bereits 1308 gegründeten Franziskanergemeinschaft und häufig am Hof des Großkhans zugegen, der großen Wert auf die Repräsentation möglichst vieler unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften und das Beten für sein Heil und das seines Reiches legte. Erst 1329 verließ er Khanbaliq in Richtung Padua. Bereits im Winter 1330 holte er sich die Erlaubnis für eine weitere Missionstätigkeit in China bei Papst Johannes XXII. in Avignon. Diese Reise konnte er jedoch nicht mehr antreten, da er am 14.01.1331 in Udine verstarb.
Doch warum sticht Odorichs Reisebericht hervor? Wie andere Reisende auch war Odorich wissbegierig, sehr neugierig und vor allem äußerst genau in seinen Beobachtungen. Er berichtete nicht von bereits bekannten Dingen, sondern legte seinen Fokus bewusst auf das Unbekannte. Der leidenschaftliche Schreibstil seines Mitbruders aus Padua, dem er den Bericht diktierte, und der insgesamt sehr persönlich wirkende Bericht heben ihn gegenüber anderen Schreibern hervor. Besonders signifikant waren jedoch seine Beobachtungen: Odorich war der erste Europäer, der über die Kormoranfischer in Südchina, die überlangen Fingernägel der Oberschicht und dem für Europäer merkwürdigen Füßebinden der Frauen berichtete; aus Indien beschrieb er, ebenfalls erstmalig, über ein Ritual, bei dem sich die Gläubigen einem Jagannath („Herr der Welt“, Krishna-Abbild aus Holz) unterwarfen. Auch über Tibet hielt er als Erster die Vorgänge einer Himmelsbestattung fest. Bei der Wiedergabe von Beobachtungen blieb es aber nicht, denn, und dies ist das Besondere, Odorich interpretierte die Szenen und zeigte ein tieferes Grundwissen der befremdlichen Beobachtungen als sonst üblich. Das oben genannte Füßebinden der Frauen beispielsweise brächte den chinesischen Frauen gesellschaftliche Wertschätzung ein und sei ein Zeichen des hohen Standes. Er wusste gleichzeitig auch, dass diese Praxis mit starken Schmerzen, sowohl beim Zusammenbinden als auch beim Gehen, verbunden sei.
Odorichs Reisebericht steht stellvertretend für weitere Berichte und unterstreicht die enorme Signifikanz dieser Quellengattung. Solche Reiseberichte beeinflussten und veränderten das Weltbild der Europäer in großem Maße. Die seltsam anmutenden Berichte über fremde Menschen, Sitten und Länder hatten bereits im Mittelalter ein großes Publikum, sodass die Reisenden selbst sehr schnell populär, zum Teil sogar wie Odorich seliggesprochen wurden.
Literatur:
Die Reise des seligen Odorich von Pordenone nach Indien und China (1314/18-1330). Übersetzt, eingeleitet und erläutert v. Folker Reichert, Heidelberg 1987.
Folker Reichert, Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter, Stuttgart 2001.
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