Wissenschaftliche
Fortschritte in nahezu allen Bereichen hatten das 17. und die erste Hälfte des
18. Jahrhunderts geprägt. Isaac Newton (1643-1727) hatte seine
Gravitationslehre vorgelegt, wissenschaftliche und religiöse Weltbilder
näherten sich an und harmonierten beinahe miteinander, die Ideale der
Aufklärung stießen vermehrt auf Resonanz und breiteten sich zusehends über den
europäischen Kontinent aus und der Beherrschung der Natur durch den Menschen
schien keine Grenzen mehr gesetzt. Vermutlich empfanden viele Zeitgenossen
tatsächlich ein Gefühl der relativen Sicherheit, wenn nicht gar der
Überlegenheit gegenüber der Natur. Dieser Optimismus sollte dann jedoch 1755 im
wahrsten Sinne des Wortes erschüttert werden und wie zahlreiche Publikationen
bereits in ihren Titeln aussagen, auch die Erschütterung der gesamten geistigen,
wissenschaftlichen und kulturellen Welt nach sich ziehen. Die Rede ist vom
Erdbeben von Lissabon, um das es im heutigen Artikel gehen soll.
Zeitgenössischer Kupferstich des Erdbebens |
Am
Morgen des 1. November 1755 gegen halb zehn ereignete sich ein See- und
Erdbeben vor und in der portugiesischen Hafenstadt Lissabon, dessen Stärke
heute mit Hilfe der Richterskala auf 8,5 geschätzt wird. Dabei lag das
Epizentrum des Erdbebens in unmittelbarer Nähe zur Küste Lissabons und es kam
zu insgesamt drei schweren Erdstößen, deren Auswirkungen wohl, wie
zeitgenössische Quellen berichten, in ganz Europa und bis nach Afrika zu spüren
gewesen waren. Nachdem bereits durch die drei Erdstöße zahlreiche Gebäude
beschädigt oder zerstört worden waren, bildete sich zudem eine Flutwelle, die
sich mit dem Fluss Tajo vereinigte, der bei Lissabon in den Atlantik mündet.
Diese Wassermassen zerstörten vor allem die tieferliegenden Gebiete der Stadt
und schließlich wurde eine Vielzahl von Gebäuden durch Brände vernichtet, die
dadurch entstanden waren, dass Küchenherdfeuer in den Trümmern bereits
zerstörter Häuser weiterbrannten und sich ausbreiteten. Zwar gibt es für 1755
keine genauen Angaben über die Einwohnerzahlen Lissabons, vermutlich lagen sie
zwischen 250.000 und 300.000, aber vorsichtige Schätzungen gehen davon aus,
dass das Erdbeben circa 30.000 Menschen das Leben kostete. Andere Schätzungen
sprechen von bis zu 100.000 Toten. Viele der katholischen Einwohner starben
dabei unmittelbar in den Kirchen, welche sie zur Feier des
Allerheiligengottesdienstes in den Morgenstunden besucht hatten. Die Stadt,
welche für ihre Schönheit, ihre kostbaren Gebäude aus dem 16. Jahrhundert und
ihren Reichtum bekannt war, wurde durch das Erdbeben und dessen Auswirkungen
beinahe vollständig zerstört und lange Zeit war nicht klar, ob und wo die Stadt
überhaupt wieder aufgebaut werden sollte.
Berichte
über das Erdbeben und seine Folgen verbreiteten sich, so schnell es die Kommunikationswege
der Zeit zuließen, über Europa und die Welt. Portugal und die Iberische
Halbinsel gehörten dabei allerdings nicht zu den Hauptpunkten der europäischen
Nachrichtenwege und zudem hatte das Erdbeben nicht nur zahlreiche Schiffe,
sondern auch Großteile des Hafens zerstört, was eine Beförderung von
Nachrichten erschwerte. So dauerte es teilweise mehrere Wochen, bis Nachrichten
über das Erdbeben in bestimmten Regionen Europas eintrafen. Jedoch riefen die Geschehnisse
dann die unterschiedlichsten Reaktionen und Verarbeitungen in Kunst und
Literatur (Goethe, Kleist u. a.) und auch europaweite Solidaritätsbekundungen
und Hilfsaktionen hervor. Zahlreiche Zeitungen veröffentlichten
Augenzeugenberichte des Erdbebens oder druckten Gedichte ab, die sich mit der
Katastrophe auseinandersetzten.
Schnell
jedoch gerieten Tatsachenberichte und Erzählungen des Ablaufs innerhalb der
Berichterstattung in den Hintergrund und es entwickelte sich mehr und mehr eine
religiöse und geistige Debatte, in welcher sich die wissenschaftlichen Größen
aus Theologie, Philosophie, Naturwissenschaft etc. der Zeit zu Wort meldeten.
Dabei versuchten sie dem Erdbeben einen Sinn zu geben und Lehren aus der
Katastrophe für die Zukunft der Menschheit zu ziehen. Beispielhaft sei hierbei
nur auf die Philosophen Voltaire (1694-1778), Rousseau (1712-1778) und Immanuel
Kant (1724-1804) verwiesen: Während Kant 1756 in seiner Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des
Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Theil der Erde
erschüttert hat versuchte, eine naturwissenschaftliche Erklärung für das
Erdbeben zu finden, Voltaire 1756 sein Poème
sur le désastre de Lisbonne verfasste, und sich darin mit der Frage
auseinandersetzte, wie ein guter Gott solch eine Katastrophe zulassen könne
(Theodizee), sah Rousseau die Ursache des Leids nicht bei Gott, sondern in der
Verderbtheit der Menschen. Andere protestantische Auffassungen interpretierten
das Erdbeben dabei als Strafe Gottes und als einen Aufruf zur Umkehr und Buße. Wieder
andere Gelehrte diskutierten, warum es ein katholisches Land getroffen habe und
noch dazu an Allerheiligen, wie es zu erklären sei, dass beinahe alle Kirchen
der Stadt zerstört wurden, nicht aber das Rotlichtviertel usw. Während dieser
Diskurs noch Jahrzehnte andauerte und immer neue Positionen und
Erklärungsansätze hervorbrachte, führte das Erdbeben jedoch gleichzeitig auch
zu einem vermehrten Interesse an Naturgewalten und den Ursachen und Auslösern
von Erdbeben, weshalb das Erdbeben von Lissabon heute als Geburtsstunde der
modernen Seismologie betrachtet wird.
Literatur:
Breidert, Wolfgang: Die Erschütterung der
vollkommenen Welt. Die Wirkung des Erdbebens von Lissabon im Spiegel
europäischer Zeitgenossen, Darmstadt 1994.
Günther, Horst: Das Erdbeben von Lissabon und die
Erschütterung des aufgeklärten Europa, Frankfurt am Main 2005.
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