Bis zum heutigen
Tag kennt die medizinische Forschung weniger als 300 Fälle von sogenannten
Lithopädia: um 1880 waren gerade einmal 47 Fälle beschrieben worden. Bei einem
Lithopädion handelt es sich um einen abgestorbenen Fötus, der meistens im
Mutterleib durch die Aufnahme von Kalk zunächst eingekapselt und anschließend
mumifiziert wird. In diesem Artikel soll es zunächst um das Phänomen, seine
Ursachen und seine Ausprägungen an sich gehen, bevor dann die Vorstellung dreier
frühneuzeitlicher Fälle erfolgt, die im Volksmund häufig als ‚Steinkinder’ bezeichnet werden: das ‚Steinkind von Sens’ in Frankreich (1554 bzw. 1582), das
‚Steinkind von Leinzell’ im heutigen Baden-Württemberg (1674 bzw. 1720) und das
‚Nebelsche Steinkind’ (1713 bzw. 1767), welches nach seinem Entdecker, dem
Mediziner und Rektor der Universität Heidelberg Daniel Wilhelm Nebel
(1735-1805) benannt wurde.
Der Begriff
Lithopädion setzt sich aus den altgriechischen Wörtern für Stein (lithos)
und Kindchen (paidion) zusammen und bedeutet so viel wie ‚Steinkindchen’.
Zur Bildung eines Lithopädions kommt es, wenn in Folge einer Eileiter- oder
einer Bauchhöhlenschwangerschaft der Fötus zunächst abstirbt und im Anschluss
nicht vom Körper der Mutter resorbiert wird. Vielmehr wird der abgestorbene
Fötus durch die Aufnahme von Kalk eingekapselt und in der Folge mumifiziert,
wodurch er letztlich wie versteinert wirkt. Wie genau und warum es in manchen
Fällen zu solch einer Verkalkung kommt, konnte bislang medizinisch nicht
zweifelsfrei geklärt werden. Auch sind Fälle bekannt, bei denen nur die
Membranen außerhalb des Fötus durch Kalkeinlagerungen innerhalb des Körpers verhärten
oder nur der Fötus, nicht aber die äußere Membran. Erschwert wird das Erkennen
dieser Fälle außerdem dadurch, dass die Mutter nicht zwangsläufig Bauch-, Rücken-
oder Beckenschmerzen empfinden muss. Wie die später behandelten Fälle zeigen
werden, kann es auch sein, dass die Frau keinerlei Symptome verspürt und das
Phänomen somit zunächst unbemerkt bleibt. In der Vergangenheit wurden somit
‚Steinkinder’ teilweise erst nach dem Tod der Mutter bei einer anschließenden Obduktion
entdeckt. Sollte es heute zur Bildung eines Lithopädions im Mutterleib kommen
und dieses entdeckt werden, so wird es operativ entfernt. Allgemein
festzuhalten bleibt jedoch, dass eine solche Bildung beim Menschen nur äußerst
selten vorkommt, weshalb eine systematische Erforschung des Phänomens kaum möglich ist.
Bei dem ersten
bekannt gewordenen Fall eines Lithopädions handelt es sich um das sogenannte
‚Steinkind von Sens’. Im Jahr 1554 war die mit einem Schneider verheiratete
Französin Colombe Chatri aus Sens 40 Jahre alt. Den Quellen zufolge vermutete
sie im gleichen Jahr schwanger zu sein. Nach rund neun Monaten setzten bei ihr
die Wehen ein und ihre Fruchtblase platzte, ein Kind brachte sie jedoch nicht
zur Welt. Die nächsten drei Jahre litt Chatri unter einer harten und
schmerzhaften Schwellung ihres Bauches und sie konnte kaum ihr Bett verlassen.
Später besserte sich ihr Zustand, bevor sie schließlich im Jahr 1582 im Alter
von 68 Jahren verstarb. Nach ihrem Tod entschied sich ihr Ehemann dazu, seine
Frau obduzieren zu lassen, um der Ursache der damaligen merkwürdigen
Vorkommnisse rund um die Schwangerschaft auf den Grund gehen zu können. Bei der
Obduktion, an der zahlreiche Ärzte und Schaulustige teilnahmen, fand man im
Körper der Frau ein versteinertes zunächst nicht zu identifizierendes Gebilde,
das nur mit Gewalt geöffnet werden konnte. Hierbei wurde die äußere Hülle
vollends zerstört und die rechte Hand des Kindes versehentlich abgeschlagen.
Zum Vorschein kam dann ein vollentwickeltes versteinertes Mädchen, das bereits
einen Zahn hatte und sich in hockender Stellung befand. Zahlreiche Mediziner
der Zeit beschäftigten sich mit dieser Sensation und suchten nach Gründen für
die Versteinerung des Kindes. Der französische Arzt Jean d’Ailleboust vermutete
so beispielsweise in seiner im gleichen Jahr erschienenen Schrift Portentosum
Lithopaedion, sive Embryum Petrificatum Urbis Senonensis, dass das Blut der
Mutter zu trocken gewesen sei und somit das Kind ausgetrocknet habe. In der
französischen Übersetzung Le prodigieux enfant pétrifié de la ville de Sens,
die vom Arzt Siméon de Provanchères herausgegeben wurde, wird die angeblich zu
niedrige Temperatur im Mutterleib als Ursache genannt.
Neben der
vielfältigen schriftlichen Beschäftigung mit dem Ereignis kursierten auch zahlreiche
Bilder und Zeichnungen und das ‚Steinkind von Sens’ wurde aufgrund seiner
zeitgenössischen Einzigartigkeit zu einem beliebten Objekt bei Sammlern von
Kuriositäten: Zunächst ging es in den Besitz eines Pariser Kaufmanns über, der
es in einem privaten Museum ausstellte. Später erwarb es ein Pariser
Goldschmied, der es anschließend im Jahr 1628 an einen Juwelenhändler in
Venedig verkaufte. Hier wurde der berühmte dänische Anatom Thomas Bartholin
(1616-1680) auf das Objekt aufmerksam und informierte vermutlich den dänischen
König Friedrich III. (1609-1670) über dessen Existenz. Ab 1653 konnte es in
königlichem Besitz nachgewiesen werden. 1820 wurde die königliche Sammlung
schließlich aufgelöst und das Steinkind wanderte sechs Jahre später ins
Dänische Museum für Naturgeschichte. Am Ende des 19. Jahrhunderts gingen die
Bestände des Museums in das Zoologische Museum Kopenhagen über. Zu diesem
Zeitpunkt war das ‚Steinkind von Sens’ jedoch bereits verschwunden und bis
heute konnte über seinen weiteren Verbleib nichts in Erfahrung gebracht werden.
Aus Berichten, die aus immer wieder erfolgten medizinischen Untersuchungen des
Objekts resultierten, ist nur bekannt, dass ihm irgendwann beide Arme
abgebrochen worden waren und es zu einer Schwarzfärbung der Haut gekommen war beziehungsweise
diese sich an manchen Stellen auch bereits völlig ab- oder aufgelöst hatte.
Thomas Bartholins Zeichnung des ‚Steinkinds
von Sens’
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b8/Steinkind_von_Sens_Bartholin.jpg
|
Im Mittelpunkt des zweiten Falls – dem ‚Steinkind von
Leinzell’ – steht eine Frau namens Anna Müller. Diese verspürte Berichten
zufolge im Jahr 1674 über sieben Wochen lang Wehen ohne jedoch ein Kind zur
Welt zu bringen. Obwohl hier ebenfalls das ‚Steinkind’ im Körper verblieb,
konnte sie in den folgenden Jahren noch einen Sohn und eine Tochter gebären. Da
sie selbst jedoch davon überzeugt war, dass sich in ihrem Körper noch ein
weiteres Kind befinden müsse und sie unter Schmerzen litt, gab sie die
Obduktion ihres Körpers nach ihrem Tod in Auftrag. Der Chirurg Knaus von
Heubach kam schließlich ihrem Wunsch nach, nachdem sie 1720 mit 91 oder 94
Jahren in Leinzell gestorben war. Knaus fand 46 Jahre nach der erlebten
Schwangerschaft eine circa kürbisgroße verkalkte Kapsel, die nur mit einem Beil
geöffnet werden konnte. Darin entdeckte er einen gut erhaltenen bräunlichen männlichen
Fötus, von dem Johann Georg Steigerthal (1666-1740), späterer Leibarzt von Georg
I., schließlich die erste Zeichnung anfertigte. Ähnlich wie das ‚Steinkind von
Sens’ wurde es dann mehrfach an verschiedene Orte gebracht und häufig
untersucht. Zunächst gelangte das ‚Steinkind von Leinzell’ für
Ausstellungszwecke nach Stuttgart in die Kunstkammer von Herzog Eberhard Ludwig
von Württemberg. Von dort wurde es 1732 nach Paris geschickt, um in der
akademischen Gesellschaft für Chirurgie untersucht zu werden. Im Jahr 1853
wurde es nach Tübingen gebracht, an der dortigen Universität untersucht und
dafür in zwei Hälften zersägt. Heute befindet sich das Objekt in der
Medizinischen Sammlung der Universität Tübingen, nachdem es zuvor über Jahre in
der Tübinger Frauenklinik ausgestellt war. Jedoch ist ein Teil des Präparats nicht
mehr auffindbar.
Zeichnung von
W. Kieser, ‚Steinkind von Leinzelll’, 1854. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2e/Steinkind_von_Leinzell.jpg |
Das ‚Nebelsche Steinkind’ schließlich verblieb 54 Jahre im Körper seiner Mutter. Bei dieser handelte es sich um Susanne Stolberg (1675-1767), die mit einem Heidelberger Gymnasialprofessor verheiratet gewesen war. Aufgrund der Kontakte ihres Mannes wurde sie nach ihrem Tod von dem oben bereits genannten Daniel Wilhelm Nebel obduziert. Er entdeckte ein beinahe vollständig entwickeltes Kind und vermutete, dass dieses durch einen Riss der Gebärmutter in die Bauchhöhle von Stolberg gelangt war, wo es schließlich verstarb und mumifiziert wurde. Nebel präsentierte seine Ergebnisse 1770 in einem Aufsatz mit dem Titel „Foetus ossei per quinquaginta quatuor annos extra uterum in abdomine detenti historia“. Das ‚Nebelsche Steinkind’ wird heute im pathologischen Institut der Universität Heidelberg verwahrt.
Während im Verlauf von weniger als 200 Jahren drei Fälle von
‚Steinkindern’ intensiv sowohl schriftlich als auch bildlich dokumentiert und
diskutiert wurden, sind heute aufgrund von medizinischen Fortschritten solche
Ereignisse kaum noch vorstellbar. Gleichzeitig steigt somit der Wert der noch
existierenden Präparate von Lithopädia und ihre Bedeutung für die Forschung.
Zum Weiterlesen:
Bondeson, Jan: The Earliest Known
Case of a Lithopaedion, in: Journal of the Royal Society of Medicine 89 (1996),
S. 13-18.
Bondeson, Jan: The Two-Headed Boy
and Other Medical Marvels, Ithaca u. London 2004.
Kieser, Wilhelm:
Das Steinkind von Leinzell, Stuttgart 1854.
Online unter:
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