Teil III: Designation & Patrimonium
Das Nachfolgeproblem von Wilhelm dem Eroberer
Als Wilhelm der Eroberer, König Englands seit 1066 [Artikel: Wilhelm der Eroberer und der Beginn des englischen Mittelalters], am 9. September 1087 in Rouen infolge einer Krankheit oder inneren Blutung starb, lebten noch drei Söhne seiner Söhne: Robert Curthose (*1054), Wilhelm Rufus (* zwischen 1057 und 1060) und Heinrich Beauclerc (*1068). Sein zweitgeborener Sohn Richard war bereits bereits 1081 nach einem Jagdunfall gestorben. Die Nachfolge schien auf den ersten Blick und verglichen mit weiteren Nachfolgeregelungen [siehe die Artikel: Thronfolge im Mittelalter I & II], beispielsweise im Ost- und Westfrankenreich, eindeutig. Die primogenitur und Individualsukzession [siehe Thronfolge im Mittelalter II] hatten sich etabliert und besagten, dass der Erstgeborene, hier also Robert Curthose, das alleinige Erbe seines Vaters antreten werde. Warum aber wurde mit Wilhelm Rufus der Drittgeborene der nächste König Englands? Wurde Robert Curthose vollständig enterbt oder mit einem „kleineren“ Erbe versehen? Und welche Rolle spielte das normannische Recht in der Nachfolgeregelung Wilhelms?
Wilhelm der Eroberer war letztlich nicht nur König Englands, sondern zuallererst Herzog der Normandie. Und bereits hier lag die Problematik: Für die Normandie und für England herrschten unterschiedliche Gewohnheiten, bzw. Regeln bezüglich der Nachfolge. In der Normandie war das Prinzip der primogenitur üblich: Jeder Herzog der Normandie vor Wilhelm dem Eroberer designierte seinen ältesten Sohn zum Nachfolger. Auch die kapetingischen Könige sowie weitere Dynastien in Nordfrankreich bedienten sich dem Prinzip der primogenitur. Der normannische Chronist Ordericus Vitalis (1075 bis ~1142) beschreibt in seiner Kirchengeschichte eine Szene an Wilhelms Sterbebett und legt ihm folgende Worte in den Mund, die ihm von Augenzeugen berichtet wurden:
„I invested my son Robert with the duchy of Normandy before I fought against Harold on the heath of Senlac; because he is my first-born son and has received the homage of almost all the barons of the country, the honor then granted cannot be taken from him.“ (Ordericus Vitalis, VII., iii. 242, S. 93.)
Dementsprechend wurde auch Robert Curthose noch vor der Eroberung Englands 1066 – wahrscheinlich im Jahr 1063 – zum Nachfolger als Herzog der Normandie designiert und von den normannischen Großen bestätigt. Zudem schwor er dem französischen König den Lehnseid. Wilhelm wollte früh Klarheit bezüglich seiner Nachfolge schaffen, die Herrschaft in der Normandie somit festigen und seinen Sohn Robert an die Politik heranführen. Robert Curthose stand allerdings sowohl zwischen 1077 und 1080 als auch 1083 kurz davor, seine Chance als möglicher Nachfolger auf den englischen Thron zu verlieren, weil er versuchte seine Forderungen nach mehr Machtbefugnissen im Herzogtum Normandie mit der Unterstützung zahlreicher junger Gefolgsleute aus Frankreich und England durchzusetzen. Die Aufstände Roberts haben sicher nicht zu einer guten Beziehung zu seinem Vater beigetragen. Wie die oben zitierte Quelle zeigt, spielte Wilhelm zumindest mit dem Gedanken, Robert zu enterben („[…] the honor then granted cannot be taken from him.“), verwarf diesen aber schnell; laut normannischem Recht war eine solche Enterbung auch nicht möglich.
Das normannische Recht, das kein niedergeschriebenes Gesetz war, sondern eher ein aus Gewohnheit entstandenes Recht, beinhaltete zudem eine Eigenheit, die in der Nachfolge Wilhelms eine große Rolle spielen sollte: Es unterschied zwischen dem Patrimonium, also dem Erbe, das der Vater bereits selbst geerbt hatte, und den hinzugewonnen Gebieten des jeweiligen Herzogs, in diesem Fall unter anderem England. Das Patrimonium erhielt der älteste Sohn (primogenitur), hier also Robert. Beim weiteren Erbe hatte der Herzog freie Wahl, jedoch erhielt meistens der Zweitgeborene die neuen Gebiete. Für den Fall, dass das Erbe demzufolge aufgeteilt wurde, erbten nur maximal die zwei ältesten Söhne überhaupt Ländereien. Alle weiteren Söhne wurden individuell mit Geld oder anderen Leistungen „vertröstet“.
In England dagegen gab es kein etabliertes Gesetz oder Recht für die Nachfolge. Bis zu Wilhelm dem Eroberer erfolgte eine Nachfolge entweder durch das Erbrecht, eine Designation durch den vorherigen König, die Wahl und Anerkennung durch den Witan (eine Versammlung geistlicher und weltlicher Großer), die Unterstützung des Adels und/oder die Krönung durch den Erzbischof von Canterbury. Bis auf den bereits verstorbenen Richard und Heinrich Beauclerc, dem einzigen in England und während Wilhelms Königtum geborenen und zum Kleriker ausgebildeten Sohn, kamen die beiden andere Söhne, Robert und Wilhelm, als Nachfolger infrage.
Zusammengefasst führten diese unterschiedlichen Nachfolgeregelungen zur Designation des erstgeborenen Sohnes Robert Curthose als Herzog der Normandie und zur Handlungsfreiheit Wilhelms für das englische Königreich. Anders als im Falle der Normandie, wo er den damals 9-jährigen Robert frühzeitig zum Nachfolger designiert hatte, entschied sich Wilhelm vermeintlich erst spät am Sterbebett für einen Nachfolger auf dem englischen Thron. Dies hatte vermutlich zwei Gründe: Zunächst wollte Wilhelm seine Herrschaft in England festigen und ausbauen, denn der normannische Eroberer wurde besonders im Norden Englands nicht akzeptiert. Außerdem änderten die Aufstände seines Sohnes Robert wahrscheinlich seinen ursprünglichen Plan. Laut dem durchaus glaubwürdigen englischen Historiker Wilhelm von Malmesbury (~1095 bis 1143) galt Robert Curthose bis zum Ausbruch der Aufstände als Alleinerbe, also auch als englischer Thronfolger. Streng genommen machte Wilhelm schließlich, wie erneut Ordericus Vitalis berichtet, weder Robert noch Wilhelm Rufus zu seinem Nachfolger:
„I hope that my son William, who has always been loyal to me from his earliest years and has gladly obeyed me in every way he could, may long prosper in the Lord, enjoy good fortune, and bring lustre to the kingdom if such is the divine will. […] I name no man as my heir to the kingdom of England; instead I entrust it to the eternal Creator to whom I belong and in whose hand are all things. For I did not come to possess such a dignity by hereditary right. […] I dare not transmit the government of this kingdom, won with so many sins, to any man, but entrust it to god alone […].“ (Ordericus Vitalis, VII., iii. 242, S. 93ff.)
Demnach hinterließ Wilhelm England einzig Gott; er sah das eroberte englische Königtum als eine von Gott verliehene Würde, denn er selbst erhielt England ja nicht durch ein väterliches Erbe, sondern mit der Hilfe Gottes. Er sprach zudem lediglich eine Empfehlung für seinen zweitgeborenen Sohn Wilhelm Rufus aus, der, sofern es Gottes Wille sei, dem Königreich Ruhm und Glanz bringen würde. Diese Stilisierungen, die wohl nur in Teilaspekten der Wahrheit entsprachen, dienten letztlich der Legitimation seines Sohnes Wilhelm durch Gott, die Ordericus Vitalis mittels seiner Worte unterstreichen wollte. Sicher ist aber, dass Wilhelm Rufus von seinem Vater noch vor dessen Tod mit einem Brief zu Lanfrank, dem Erzbischof Canterburys, geschickt wurde. Damit verfolgte er das Ziel, seinen Sohn bei den englischen Großen und besonders bei genanntem Lanfrank zu empfehlen. Eine solche Empfehlung kam einer Designation gleich.
Dieses Portrait aus dem Stowe Manuskript zeigt König Wilhelm II. Rufus / Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/92/William_II_of_England.jpg |
Wilhelm Rufus wurde nur 20 Tage nach dem Tod seines Vaters am 29.09.1087 in der Westminster Abbey gekrönt. Die Thronfolge Wilhelm Rufus‘ vereinigte mehrere Komponenten, die bereits für frühere Krönungen ausschlaggebend gewesen waren: die Designation durch seinen Vater, die Bestätigung der Großen, das rasche Handeln und die damit verbundene Kontrolle über die Insignien und die Krone sowie die Krönung durch den Erzbischof von Canterbury. Hinzu kam die nach normannischem Recht erfolgte Erbregelung. Der erstgeborene Sohn Robert erhielt das Patrimonium, der drittgeborene, aber als zweitältester lebende, Wilhelm die hinzugewonnenen Gebiete des Vaters.
Während sich auf dem Kontinent zur gleichen Zeit die salische und kapetingische Dynastie in aller Regelmäßigkeit der primogenitur bedienten, gab es in England weder Recht noch Gewohnheit bei der Besetzung des Thrones. Wilhelm bediente sich der ihm vertrauten normannischen Regelung, wobei ihm letztlich die Wahl zwischen Robert Curthose und Wilhelm Rufus durch die Aufstände des Erstgenannten erleichtert wurde. Wilhelm Rufus regierte schließlich 13 Jahre als König Englands. Ihm folgte dann 1100 sein jüngster Bruder, Heinrich Beauclerc.
Zum Weiterlesen:
Frank BARLOW, William Rufus, London 2000.
David Charles DOUGLAS, Wilhelm der Eroberer. Herzog der Normandie, Kreuzlingen 2004.
John LE PATOUREL, The Norman Succession, in: The English Historical Review 86 (1971), S. 225-250.
Emily TABUTEAU, The Role of Law in the Succession to Normandy and England, in: The Haskins Society Journal 3 (1991), S. 141-169.
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