Sonntag, 14. April 2019

Aufstieg und Niedergang des Tolosanischen Reiches

Die Stadt Toulouse liegt in Südfrankreich am Fluss Garonne und ist heute mit ungefähr 1,3 Millionen Einwohnern (Metropolregion) die viertgrößte Stadt Frankreichs. Die Geschichte der Stadt lässt sich bis in das Jahr 106 v. Chr. zurückverfolgen, als aus dem damaligen Tolosa ein keltischer Goldschatz bei der Rückeroberung durch die Römer von ebenjenen geraubt wurde. Nach der Plünderung wurde Tolosa dem Römischen Reich einverleibt und schließlich zur Hauptstadt der Provinz Gallia Narbonensis zwischen Mittelmeer und Atlantik. Anfang des vierten Jahrhunderts sollten die Westgoten, die besonders diese Provinz bevölkerten, gegen die römische Übermacht aufbegehren. Anschließend wurde sogar ein ganzes Reich nach Tolosa benannt – das Tolosanische Reich. Dieses Reich sollte zwar nicht einmal 100 Jahre bestehen, dennoch spiegelt es die Beziehung zwischen dem Weströmischen Reich und weiteren Reichen, bzw. Stammesgebieten in der Spätantike und im Frühmittelalter wider. Dieser kurz!-Artikel beschäftigt sich mit der Entstehung, der Expansion und dem Niedergang des Tolosanischen Reiches.

Entwicklung des Westgotenreichs (rotorange: Ansiedlung der Westgoten in Aquitanien ab 418; orange und hellorange: Ausbreitung des Westgotenreiches bis 507); von 418 bis 507 Tolosanisches Reich / Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/d/d7/Visigothic_Kingdom.png/820px-Visigothic_Kingdom.png

Bevor das Tolosanische Reich als solches auf der Landkarte erschien, fanden zahlreiche blutige Auseinandersetzungen zwischen den Westgoten, die sich besonders im Südwesten Galliens angesiedelt hatten und anderen germanischen Stämmen sowie den Römern statt. Unter der Führung von Heerkönigen wie Alarich und Athaulf, versuchten die Westgoten zu expandieren und Gebiete zu gewinnen, doch stellte sich ein anhaltender Erfolg nicht ein. Dies zwang Wallia (rex der Westgoten von 415-418/19) dazu, ein Bündnis mit den übermächtigen Römern einzugehen, um nicht auch von ihnen vertrieben oder ausgelöscht zu werden. Damit läutete er die erste Phase des Tolosanischen Reiches als foederati, also nicht gleichberechtigte Verbündete, des Römischen Reiches ein, in der alle Formen der römischen Rechtspraxis und die lateinischen Herrschertitel nachgeahmt wurden. Als Gegenleistung für dieses Bündnis sollten die Westgoten fast zwei Jahre gegen die in Spanien eingedrungenen germanischen Gruppen (vermutlich überwiegend Vandalen) kämpfen. Nach Abschluss dieser Mission erhielten die Westgoten ein Gebiet zur Ansiedlung und Selbstversorgung, blieben aber zunächst dennoch abhängig vom Weströmischen Reich, auch wenn ihre Regionalherrschaft autonom war. Trotz dieses vermeintlichen Bündnisses konnten die Ziele und Vorstellungen beider Seiten kaum unterschiedlicher sein: Während man sich in Rom erhoffte, dass das Tolosanische Reich als Puffer und Feindabwehr dienen werde, strebten dessen Herrscher nach Expansion, sicheren Einkünften und einer größeren Machtfülle, um unabhängig von Rom regieren und agieren zu können. 

Die ersten Jahrzehnte des neu entstandenen Reiches verliefen weitgehend unscheinbar. Theoderich I. (419-451) prägte diesen Zeitraum und konsolidierte seine Macht und die seines Reiches. Er schaffte es sogar, sein Reich nach Süden zu vergrößern. In dieser zweiten Phase sollte sich vor allem zeigen, dass die reges Gothorum sich als etwas Besseres als foederati sahen. Die entgegengesetzten Entwicklungen – in Rom wechselten häufig die Herrscher und sorgten so für eine politische Instabilität – führten letztlich sogar dazu, dass Theoderich gegen die Römer aufbegehrte, obwohl dies einer klaren Verletzung des bestehenden Vertrages entsprach. Als die Westgoten versuchten, mit Druck und Gewalt neue foedera auf ihrer Seite zu erzwingen, griff Rom in Person von Flavius Aëtius (390-454) und seinem Heer ein. Aëtius, der in Folge eines Bürgerkrieges im Jahr 433/434 faktisch als Regent galt, konnte die Westgoten in mehreren Schlachten besiegen und zurückdrängen. Die gewünschte Expansion zum Mittelmeer konnte so vorerst verhindert werden. Der Wille der Westgoten blieb jedoch ungebrochen, sodass letztlich ein längerer Krieg mit Aëtius ausgefochten wurde, an dessen Ende dieser zwar die Oberhand behielt, die Westgoten sich aber einen neuen Vertrag erkämpft hatten, dessen Inhalt allerdings unbekannt ist. Der Konflikt mit Aëtius wurde dadurch aber nicht beendet, sondern sollte noch bis 439 andauern. Keine Seite konnte sich einen entscheidenden Vorteil erkämpfen, sodass schließlich ein von Aëtius übermitteltes Friedensangebot von Theoderich angenommen wurde. Aus diesem Angebot heraus soll laut dem Geschichtsschreiber Jordanes (De origine actibusque Getarum) die Souveränität des Tolosanischen Reiches erfolgt sein. 

Die dritte Phase unterstreicht die gestiegene Machtfülle und das Selbstbewusstsein der Westgoten, die nun auf Augenhöhe mit dem weströmischen Kaiser agierten. Nachdem der Nachfolger Theoderichs, Thorismund (451-453) von seinem eigenen Bruder Theoderich II. (453-466) ermordet worden war, strebte letzterer ein erneutes Bündnis mit Rom an, nur um innerhalb des Weströmischen Reiches seine Macht ausbauen zu können. Aëtius dagegen wurde dem weströmischen Kaiser Valentinian III. (Kaiser von 425 bis 455) zu mächtig und infolgedessen eigenhändig von ebenjenem ermordet. Unmittelbar nach dem Mord an Aëtius drängte der neue tolosanische Herrscher darauf, den gallorömischen Senator Avitus zum Kaiser zu erheben. Lediglich zwei Jahre (455 und 456) hielt dessen Kaisertum an, auch weil die Westgoten auf der Iberischen Halbinsel in Kämpfe mit dem Stamm der Sueben verwickelt wurden und Avitus kaum mehr stützen konnten. Diese kurze Episode unterstreicht aber den gestiegenen Machtanspruch der Westgoten. Bis in die 460er Jahre war das Verhältnis zwischen Rom und Tolosa steten Schwankungen ausgesetzt. Immer wenn es zu Bürgerkriegen und einem Machtvakuum in Rom kam, versuchte Theoderich II. dieses zu besetzen, indem er einzelne Kandidaten unterstützte. Auch das Loslösen vom Föderatenstatus sowie die erneuten Bindungen an Rom sollten in dieser Zeit mehrmals wechseln. 

Neuzeitliches, aus Spanien stammendes Bild Theorderichs II. / Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/8c/08-TEODORICO.JPG

Eurich, der jüngere Bruder Theoderichs II., herrschte über das Tolosanische Reich von 466 bis 484. Anders als bei seinen Vorgängern war sein Vorgehen gegenüber dem geschwächten Rom deutlich aggressiver. Zunächst löste er das ungleiche Bündnis mit Rom auf, um anschließend seinen Machtbereich auszubauen. Das Tolosanische Reich erstreckte sich Ende der 460er Jahre bis zur Loire, in die Auvergne und weit bis auf die Iberische Halbinsel. Eurich war dies nicht genug, sodass er sogar bis nach Rom vorrücken wollte. Obwohl dies misslang, war es ihm durch die Vergrößerung seines Reiches und dem damit verbundenen Machtausbau möglich, im Jahr 475 mit dem amtieren Kaiser Julius Nepos Frieden zu schließen. Noch wichtiger aber war die Anerkennung der Unabhängigkeit des Tolosanischen Reiches. Diese Anerkennung und bis dahin größte Ausdehnung des Reiches sollte den Höhepunkt in dessen Geschichte darstellen. Bevor Eurich 484 starb, schaffte er es bis dahin zeitweise weitere große Gebiete der Iberischen Halbinsel zu erobern und zu besetzen.
Alarich II. (484-507) wurde sein Nachfolger und letztlich auch der letzte Herrscher des Tolosanischen Reiches. Obwohl sein Reich zum Amtsantritt sehr groß und Alarichs Stellung äußerst mächtig war, konnte er die Machtfülle nicht konservieren. Die Franken, die im ausgehenden 5. Jahrhundert expandierten, bildeten eine neue, kaum aufhaltbare Macht, der die Westgoten nicht viel entgegenzusetzen hatten. Im Jahr 507 kam es zur entscheidenden Schlacht auf der Ebene von Vouillé gegen den erstarkten Frankenkönig Chlodwig I. (466-511). Alarich sollte diese Schlacht nicht überleben und so die relativ kurze Lebensdauer des Tolosanischen Reiches beenden. Die Hauptstadt Tolosa wurde geplündert und die Schätze des Reiches geraubt. Die Konsequenz dieser Niederlage bestand im Rückzug der Westgoten hinter die Pyrenäen, sodass sie nun nur noch auf der Iberischen Heimatinsel beheimatet waren. 

Die Taufe Chlodwigs Miniatur aus der Vie de saint Denis (um 1250) / Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c7/Baptism_of_Clovis.jpg
 
Die Existenz des Tolosanischen Reiches kann als kurz und äußerst intensiv beschrieben werden. Das stetige Schwanken zwischen dem Föderatenstatus und dem Angriff auf das Weströmische Reich bestimmte die beschriebenen 89 Jahre. Erst die Schwäche der Römer führte zu einem Machtvakuum, das mehrere rex Gothorum gekonnt auszufüllen wussten, sodass sie letztlich über ein riesiges Reich herrschten. Doch auf einen schnellen Aufstieg sollte ein vielleicht noch schnellerer Abstieg folgen. Der Aufstieg der Franken führte unmittelbar zur Ausdehnung des Frankenreiches und dem Zurückdrängen des Tolosanischen Reiches, bis es letztlich von der Landkarte verschwand. Diese doch eher kurze Existenz und der Kampf mit Rom sind ein Beispiel für die zahlreichen Auseinandersetzungen zwischen Stämmen und Reichen mit den Römern zur Zeit des Niedergangs des Weströmischen Reiches. Gleichzeitig wurde durch diese Auseinandersetzungen die Epoche des Frühmittelalters eingeläutet.

1 Kommentar:

  1. Immer schön, Neues aus dieser Zeit zu hören. Der Übergang von Spätantike zu Mittelalter ist ja allzu oft immer noch ein schwarzer Fleck

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