„Ipso
anno [1212] contigit res satis miranda et ideo magis miranda, quia a seculo
inaudita“ (In demselben Jahr 1212 ereignete sich eine überaus wunderbare
Sache und deswegen so überaus wunderbar, weil sie seit Anbeginn der Welt
unerhört war). Mit diesen Worten leitet die zweite Fortsetzung der Kölner
Königschronik ein Ereignis ein, das bis heute in der
geschichtswissenschaftlichen Forschung zu den Kreuzzügen immer wieder
thematisiert und auch wenn es keine eindeutigen Quellen gibt, die dies belegen,
als Legende betrachtet wird: der „Kinderkreuzzug“, der 1212 in Speyer seinen
Anfang nahm. Dieser und auch der fast gleichzeitig stattfindende französische
„Kinderkreuzzug“ sollen im Mittelpunkt dieses Artikels stehen. Es werden dabei zuerst
die Charakteristika und die Besonderheiten vorgestellt, um in einem nächsten
Schritt beurteilen zu können, ob bei den sogenannten peregrinationes puerorum des Jahres 1212 von „Kinderkreuzzügen“
bzw. Kreuzzügen im eigentlichen Sinne gesprochen werden kann.
Die Geschichte des „Kinderkreuzzuges“ im Heiligen
Römischen Reich beginnt mit einem Mann, der in den Quellen als Nikolaus von Köln
überliefert ist. Dieser habe, so berichtet der Notar und Kanzler in Piacenza
Johannes Codagnellus (1202 - nach 1235) in seinen Annales Placentini, im Jahre 1212 eine Vision gehabt, in welcher
ihm ein Engel erschienen sein soll. Der Engel habe Nikolaus den Auftrag
gegeben, das Heilige Land von den Sarazenen zu befreien, wobei er mit der
Unterstützung Gottes rechnen könne. Aufgrund dieser Vision hätten sich schon
schnell viele Menschen um Nikolaus versammelt, um ihm und seinem göttlichen Auftrag
zu folgen. Wohl deshalb, so ist es in der bereits erwähnten Fortsetzung der
Kölner Königschronik überliefert, hätten mehrere tausend Kinder/Knaben („multa milia puerorum“) im Alter von
sechs bis etwa 14 Jahren zwischen Ostern und Pfingsten desselben Jahres gegen
den Willen der Eltern, Verwandten und Freunde das Kreuz genommen („crucibus se signaverunt“), um gemeinsam und
ausgestattet mit hundert aufgerichteten Bannern nach Jerusalem zu ziehen („Iherosolimam ire ceperunt“). Diese
Gemeinschaft sei dabei vom besagten Nikolaus und seiner Vision angeführt worden.
Im Juli 1212 habe die Gruppe dann Speyer erreicht und von dort die Reise
vermutlich über die österreichischen Alpen nach Italien fortgesetzt, wo sie am
20. August 1212 Piacenza erreichte. Schon hier berichtet Johannes Codagnellus
jedoch, dass nicht nur Kinder bzw. Knaben Nikolaus gefolgt seien, sondern, dass
auch Frauen und Mädchen in die norditalienische Stadt einzogen. Von da aus sei
Nikolaus mit seinen Anhängern weiter über Cremona nach Genua gezogen, das er
noch am 25. desselben Monats erreicht habe. Der Stadtchronist Genuas Ogerius
Panis beschreibt, dass ungefähr 7000 mit Kreuzen, Trompeten und Gepäck
ausgestattete Männer und Frauen, Knaben und Kinder („homines et feminas et pueros et puellas“) die Stadt betreten hätten.
Für einen Großteil der Gruppe habe die Reise in Genua geendet, während aus
anderen Quellen hervorgeht, dass einzelne kleine Gruppen nach Brindisi,
Treviso, Pisa oder Rom aufgebrochen seien.
Gustave Doré: Der Kinderkreuzzug (romantisierende Illustration des 19. Jahrhunderts; https://de.wikipedia.org/wiki/Kinderkreuzzug#/media/File:Gustave_dore_crusades_the_childrens_crusade.jpg) |
Etwa zur selben Zeit, im Juni 1212, soll in
der französischen Stadt Cloyes ein jugendlicher Hirte namens Stephan erschienen
sein, der die Einwohner der Stadt über eine Begegnung mit Gott unterrichtete.
Der Herr sei Stephan, so erwähnt es das Chronicon
Laudunensis, in Gestalt eines armen Pilgers („specie peregrini pauperis“) erschienen und habe ihm eine himmlische
Botschaft für den französischen König Philipp II. (1156-1223; König 1180-1223)
übergeben. Daraufhin habe Stephan sich mit zahlreichen jungen Anhängern, die er
aufgrund seiner Botschaft hinter sich vereinen konnte, aufgemacht, um mit der
erhaltenen Botschaft Gehör bei Philipp II. zu finden. Da dieser Stephan jedoch
abgewiesen habe, sei er weiter nach Saint-Denis gezogen, habe weitere Anhänger
um sich versammelt und von dort eine breite Wallfahrtsbewegung in erster Linie
junger Leute in Frankreich ausgelöst. Innerhalb dieser Bewegung äußerte sich jedoch
anders als bei der Bewegung, die hinter Nikolaus von Köln stand, nie das
Vorhaben, in das Heilige Land aufzubrechen. Zwar gibt es einen Bericht des
Zisterziensermönchs Alberich von Trois-Fontaine (gest. nach 1252), der
ausführt, dass sich ein Teil der Gemeinschaft nach Marseille aufgemacht habe,
um dort mit Schiffen überzusetzen, dort aber entweder durch Schiffskatastrophen
ums Leben gekommen („due naves perierunt“)
oder auf dem Sklavenmarkt in Nordafrika verkauft worden sei („omnes infantes illos principibus
Sarracenorum et mercatoribus vendiderunt“), allerdings wird dieser Bericht
Alberichs heute stark angezweifelt.
Damit sind die Grundlagen der beiden
„Kinderkreuzzüge“ des 13. Jahrhunderts erzählt. Jetzt stellt sich aber die
Frage, ob eine Charakterisierung bzw. Übersetzung der in den Quellen häufig so
bezeichneten peregrinationes puerorum
als „Kinderkreuzzüge“ zulässig ist? Auf der Suche nach einer Antwort müssen
beide lateinischen Wortbausteine getrennt voneinander betrachtet werden. Das
lateinische Wort peregrinatio
bedeutet vor allem so viel wie ‚in die Fremde gehen’, ‚Reise’, aber auch ‚Pilger-
oder Wallfahrt’. Wenngleich das Wort auch als ‚Kreuzzug’ übersetzt werden kann,
so war in den beiden vorgestellten Fällen wohl kein Kreuzzug im eigentlichen
Sinne gemeint. Auffällig ist nämlich vor allem, dass es keinen Aufruf des
Papstes zu einem Kreuzzug gab und dieser für 1212 auch nicht nachweisbar ist.
Lediglich Papst Innozenz III. (1160/61-1216) forderte im Jahre 1212 die
Christenheit vermehrt dazu auf, gegen die Muslime auf der Iberischen Halbinsel (heute:
Spanien, Portugal, Andorra und Gibraltar) zu kämpfen. Die Berufung für die Züge
Nikolaus’ von Köln und Stephans von Cloyes beruhten vielmehr auf einer
göttlichen Aufforderung. Zwar ist im Fall des französischen „Kinderkreuzzuges“
ein Vorhaben der Reise ins Heilige Land explizit gar nicht nachvollziehbar –
Stephan ging es augenscheinlich eher um Wallfahrten – , während aber bei
Nikolaus überliefert ist, dass Gott selbst ihm aufgetragen habe, ins Heilige
Land zu ziehen, um das Heilige Grab von den Sarazenen zu befreien. Allerdings
gibt es auch im Falle Nikolaus’ von Köln keinerlei Kreuzzugspropaganda. Nikolaus
und Stephan, der zudem wohl mehr durch die Chronisten biblisch zum Hirten
stilisiert wurde als das er wirklich Hirte war, beriefen sich also nicht auf
einen Aufruf des Papstes, sondern auf eine Engelseingebung bzw. einen
göttlichen Befehl.
Auch der zweite Wortbaustein puer/pueri verleitet und verleitete
schon zahlreiche Historiker zu einem groben Übersetzungsfehler: Das lateinische
Wort meint nicht nur Kinder im heutigen Sinne (pueritia/Kindheit: im Mittelalter von 7 bis 14 Jahren bzw. häufig
auch 28 Jahren) oder Knaben, sondern wie auch die Ausführungen Ogerius Panis’
zeigen, waren auch Mädchen, Frauen bzw. überhaupt Erwachsene beiderseitigen
Geschlechts Teilnehmer der beschriebenen Züge. Als pueri galten zudem überhaupt alle Personen, die sozial in einem
Abhängigkeits- oder Unterwürfigkeitsverhältnis standen (v.a. einfache Bauern) bzw.
solche, denen kindliche Attribute (jung, einfach, unschuldig) zugesprochen
wurden. Mit puer wollten die Chronisten
und Schreiber also weniger auf die Altersstruktur der Züge aufmerksam machen,
als mehr auf die Sozialstruktur.
Die „Kinderkreuzzüge“ waren also weniger
Kreuzzüge im eigentlichen Sinne. Vielmehr müssen die Züge als ‚Bußzüge’ bzw.
‚Armenzüge’ verstanden werden. Es ging den vermehrt aus bäuerlichen Schichten
stammenden Teilnehmern nicht um Eroberung. Die Züge müssen mehr im Kontext der
im 11. Jahrhundert einsetzenden und sich im 12. Jahrhundert verstärkenden
Armutsbewegungen gesehen werden. Da es erstmals vor allem einfache, arme,
bäuerliche Menschen waren, die die peregrinationes
ausmachten, und die sich bei ihren Zügen direkt auf eine göttliche Berufung
bezogen, stilisierten diese sich gleichsam zu Auserwählten Gottes und
glorifizierten ihre Armut als oberste Tugend des Glaubens. So zogen die beiden
Züge, deren Teilnehmer sich gleichsam symbolisch als ‚Kinder Gottes’
verstanden, durch die Lande, predigten Armut sowie Demut und kritisierten damit
gleichzeitig eine Christenheit und einen Klerus, der geprägt war von Habsucht,
Neid und Genusssucht. Die Teilnehmer der Züge waren davon überzeugt, dass die
Kreuzritter und Kreuzfahrer zwar reich und machtvoll waren, aber vor allem
deshalb immer wieder erfolglos von den Kreuzzügen zurückkehrten, weil sie schlechte
Christen waren. Selbst die Zugteilnehmer um Nikolaus von Köln und Stephan von
Cloyes sahen sich gerade in ihrer Einfachheit, Armut und Waffenlosigkeit als
gute Christen und Alternative zu den gescheiterten bewaffneten Kreuzzügen mit
häufig katastrophalem Ausgang an.
Somit nutzten wohl auch vor allem die
mittelalterlichen Schreiber und Chronisten der armutsorientierten Reformorden
die Bezeichnung peregrinatio puerorum,
um die „Kinder(kreuz)züge“ als Züge der sündenfreien, schützenswerten und unschuldigen
‚Kinder Gottes’ aus der Armutsbewegung zu legitimieren und so gegen den Klerus
zu schützen, während konservativ-klerikale Autoren in ihren Schriften vor allem
bemüht waren, sich gegen diese Bewegung zur Wehr zu setzen.
Zum Weiterlesen:
Quellen
Chronica regia Coloniensis. Continuatio secunda, ed. von Georg Waitz, in: MGH SS rer. Germ. 18, Hannover 1880, S. 170-197.
Sekundärliteratur
Gäbler, Ulrich: Der 'Kinderkreuzzug' von Jahre 1212, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 28 (1978), S. 1-14.
Menzel, Michael: Die Kinderkreuzzüge in geistes- und sozialgeschichtlicher Sicht, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 55 (1999), S. 117-156.
Raedts, Peter: The Children's Crusade of 1212, in: Journal of Medieval History 3 (1977), S. 279-324.
http://www.zeit.de/2012/15/Jaspert-Kinderkreuzzug
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