Sonntag, 15. Juni 2014

Judith und Balduin von Flandern - Zwischen Zwangsheirat, Flucht und Selbstbestimmung

Trennungen, Scheidungen, Rosenkriege. Heute vergeht kaum ein Tag, an dem die Medien nicht von Eheaffären größerer oder kleinerer Berühmtheiten berichten. Auch das 9. Jahrhundert kannte solche Affären. Am berühmtesten ist wohl der Fall des fränkischen Königs Lothar II., der sich von seiner Ehefrau Theutberga scheiden lassen wollte, um seine Konkubine Waldrada zu ehelichen oder aber die Angelegenheit um den Sohn und Nachfolger Karls des Kahlen Ludwig den Stammler, der seine erste Ehefrau Ansgard verstieß, um in zweiter Ehe Adelheid zu heiraten. Es wird deutlich, dass in der von patriarchalischen Strukturen geprägten Gesellschaft immer Männer Schritte einleiteten, um die Ehe dem eigenen Willen zu unterwerfen. Dieser Artikel möchte jedoch nicht die Männer, sondern eine Frau in den Blick nehmen, die im 9. Jahrhundert selbstbestimmt dafür kämpfte, die Ehe, die eben ausschließlich vom Willen des Mannes abhängig war, nach dem eigenen Willen auszurichten.

Bereits mit der Geburt von Judith 843 fiel die potestas de coniunctione, das heißt die Entscheidungsgewalt über die Verheiratung der eigenen Kinder, ihrem Vater Karl dem Kahlen, dem späteren römischen Kaiser, als Vormund bzw. pater familias zu. Spätestens im Jahre 856 wurde diese väterliche Verfügungsgewalt Judith zum Verhängnis, als nämlich die ungefähr 13-jährige Judith von ihrem Vater aus politischen Gründen mit dem 50-jährigen angelsächsischen König Æthelwulf von Wessex verheiratet wurde. Nach dem Tod ihres Ehemannes 858 und der Übernahme der Königswürde durch ihren Stiefsohn Æthelbald hatte Judith nur die Möglichkeiten, in ein Kloster einzutreten oder sich zurück zum Vater in das Frankenreich zu begeben, was allerdings auch den Verlust der gewonnenen Unabhängigkeit bedeutet hätte. Diese neu gewonnene Unabhängigkeit war wohl der Grund dafür, dass Judith in zweiter Ehe ihren Stiefsohn Æthelbald heiratete. Auch wenn diese Ehe zwischen Stiefmutter und Stiefsohn den kirchlichen und weltlichen Vorschriften der Zeit widersprach, da sie als inzestuös angesehen wurde, lassen zeitgenössische Quellen keinerlei Verurteilung dieser Ehe erkennen. Dies spricht dafür, dass die Ehe trotz des Verstoßes gegen die Ehevorschriften der Zeit anerkannt wurde.
Allerdings starb Æthelbald schon 860 und Judith kehrte zweifach verwitwet und kinderlos in das Frankenreich zurück, wurde unter den Schutz des königlichen Vaters gestellt und unter bischöflicher Bewachung in Senlis, einer der stärksten Festungen und dem Schatzhaus Karls des Kahlen, festgehalten. Die Annales Bertiniani sprechen bei dem Aufenthalt von Judith in Senlis gar von custodia (Gefängnis) und auch hier boten sich Judith eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder das Leben in solch strenger Haft leben oder darauf warten, erneut durch den Vater verheiratet zu werden. Judith wählte aber einen dritten und umso bemerkenswerteren Weg, der aufzeigt, dass sie sich nicht weiter dem heiratspolitischen Spiel ihres Vaters beugen wollte.
Im Frühjahr 862 floh Judith zusammen mit einem jungen Ritter namens Balduin aus Senlis. Balduin gehörte zum Gefolge Ludwigs des Stammlers, dem Bruder Judiths und dieser Umstand ermöglichte es vermutlich erst, dass Balduin überhaupt in der Vorzeit der Zutritt zu Judith gewährt wurde. Schon vor der Flucht war eine wie auch immer geartete Beziehung zwischen Judith und Balduin bekannt geworden, denn die Annales Bertiani berichten, dass Karl der Kahle bei den Umständen der Flucht von einer non incerto nuncio, also einer bekannten Botschaft, erfuhr und direkt Senlis aufsuchte. Auch wenn Karl der Kahle mithilfe des fränkischen Klerus' mit Nachdruck versuchte, Balduin des Frauenraubs zu bezichtigen, war eine Verurteilung von kirchlicher Seite wegen des Raubs einer Witwe äußerst schwierig, da Judith aus freiem Willen gefolgt war und Balduin keinerlei Gewalt gegen Judith angewandt hatte. Zudem war die Heirat, die die Flucht von Balduin und Judith krönen sollte von kirchlicher Seite alles andere als widerrechtlich, da Judith als zweifache Witwe aus der Munt, das heißt aus der Gewalt des Vaters über die Hausgemeinschaft, ausgetreten und nach fränkischem Recht mündig war, selbstbestimmt eine Ehe einzugehen. Allerdings konnte nicht unbeachtet bleiben, dass Balduin auf weltlicher Rechtsseite mit der Flucht die Bestimmungen Karls des Kahlen gebrochen und das Recht seines Lehnsherrn verletzt hatte. Eine Verurteilung nach weltlichem Recht war also rechtens und sorgte wohl dafür, dass Judith und Balduin dennoch von kirchlicher Seite exkommuniziert wurden, da gerade im 9. Jahrhundert die Kirche sich immer bemühte, die weltliche Gewalt mit allen Mitteln zu stützen. Die Exkommunikation machte so die Anerkennung einer Ehe unmöglich. Balduin und Judith flohen an den Hof Lothars II., der eben wie oben erwähnt in einen eigenen Eheprozess verwickelt war, um nach Unterstützung zu suchen. Hier am Hofe Lothars fand dann vermutlich auch die Trauung von Judith und Balduin statt, die ja aber aufgrund der Exkommunikation und des Bruches mit dem Königsschutz nicht anerkannt wurde. Da Lothar dem Paar jedoch durch seine eigenen ehelichen Schwierigkeiten keinen ausreichenden Schutz bieten konnte, flohen Judith und Balduin über die Alpen weiter zu Papst Nikolaus I. nach Rom. Dort wurden die Flüchtenden vom Papst aus Gnade aufgenommen. Das sich auf der Flucht befindliche Paar bat den Papst um seine Unterstützung in der Auseinandersetzung mit Karl dem Kahlen und der fränkischen Geistlichkeit bezüglich der Anerkennung der Heirat. Noch im selben Jahr 862 intervenierte Papst Nikolaus I. in der Eheangelegenheit von Judith und Balduin und ließ Karl den Kahlen mittels eines Briefes darüber unterrichten, dass beide den Papst um die Unterstützung gebeten hatten und das er deshalb bischöfliche Legaten geschickt habe, um durch diese um Milde und Verzeihung für die Geflohenen zu bitten. Papst Nikolaus war sich bei diesem Vorgehen wahrscheinlich über die Chance einer erfolgreichen Einflussnahme sehr bewusst, da Karl der Kahle schon in der Vergangenheit immer um ein gutes Verhältnis zum Papst bemüht gewesen war. Auch Irmintrude, die Frau Karls des Kahlen und Mutter Judiths, erhielt ein päpstliches Schreiben. In diesem bat Papst Nikolaus I. auch diese um ihre Unterstützung im vorliegenden Fall und der Einflussnahme auf ihren Gatten.
Erst jetzt lenkte Karl der Kahle ein, da er vermutlich seine guten Beziehungen zur römischen Kurie nicht durch Balduin verletzen wollte. Spätestens auf der Synode in Verberie an der Oise 863, bei der es ein erstes Wiedersehen von Karl dem Kahlen und Judith gab, gestattete dieser die rechtmäßige Heirat zwischen Balduin und Judith, die dann Mitte Dezember 863 unter Anwesenheit des Königs in Auxerre zelebriert wurde. Erst jetzt sprechen die Quellen von einer legaliter coniugio, also einer rechtmäßigen Eheverbindung.
Judith war es also spätestens im Jahre 863 gelungen, sich das Selbstbestimmungsrecht zu erkämpfen und aus dem strengen Schutz des eigenen Vaters auszubrechen. Trotz der langandauernden Auseinandersetzungen mit der Kirche und ihrem Vater hielt sie zu Balduin, um nicht erneut einer Zwangsverheiratung durch ihren Vater zum Opfer zu fallen.

Literatur
Saar, Stefan Christian: Ehe – Scheidung – Wiederheirat. Zur Geschichte des Ehe- und des Ehescheidungsrechts im Frühmittelalter (6.-10. Jahrhundert) (Ius Vivens. Rechtsgeschichtliche Abhandlungen 6), Münster 2002.
Sproemberg, Heinrich: Judith. Königin von England, Gräfin von Flandern I, in: Revue Belge de Philologie et d'Histoire 15 (1936), S. 397-428.
Sproemberg, Heinrich: Judith. Königin von England, Gräfin von Flandern II, in: Revue Belge de Philologie et d'Histoire 15 (1936), S. 915-949.

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