Trennungen,
Scheidungen, Rosenkriege. Heute vergeht kaum ein Tag, an dem die Medien nicht
von Eheaffären größerer oder kleinerer Berühmtheiten berichten. Auch das 9.
Jahrhundert kannte solche Affären. Am berühmtesten ist wohl der Fall des
fränkischen Königs Lothar II., der sich von seiner Ehefrau Theutberga scheiden
lassen wollte, um seine Konkubine Waldrada zu ehelichen oder aber die
Angelegenheit um den Sohn und Nachfolger Karls des Kahlen Ludwig den Stammler,
der seine erste Ehefrau Ansgard verstieß, um in zweiter Ehe Adelheid zu
heiraten. Es wird deutlich, dass in der von patriarchalischen Strukturen
geprägten Gesellschaft immer Männer Schritte einleiteten, um die Ehe dem
eigenen Willen zu unterwerfen. Dieser Artikel möchte jedoch nicht die Männer,
sondern eine Frau in den Blick nehmen, die im 9. Jahrhundert selbstbestimmt
dafür kämpfte, die Ehe, die eben ausschließlich vom Willen des Mannes abhängig
war, nach dem eigenen Willen auszurichten.
Bereits mit der
Geburt von Judith 843 fiel die potestas de coniunctione, das heißt die
Entscheidungsgewalt über die Verheiratung der eigenen Kinder, ihrem Vater Karl
dem Kahlen, dem späteren römischen Kaiser, als Vormund bzw. pater familias zu. Spätestens im Jahre
856 wurde diese väterliche Verfügungsgewalt Judith zum Verhängnis, als nämlich die
ungefähr 13-jährige Judith von ihrem Vater aus politischen Gründen mit dem
50-jährigen angelsächsischen König Æthelwulf von Wessex verheiratet wurde. Nach
dem Tod ihres Ehemannes 858 und der Übernahme der Königswürde durch ihren
Stiefsohn Æthelbald hatte
Judith nur die Möglichkeiten, in ein Kloster einzutreten oder sich zurück zum
Vater in das Frankenreich zu begeben, was allerdings auch den Verlust der
gewonnenen Unabhängigkeit bedeutet hätte. Diese neu gewonnene Unabhängigkeit
war wohl der Grund dafür, dass Judith in zweiter Ehe ihren Stiefsohn Æthelbald
heiratete. Auch wenn diese Ehe zwischen Stiefmutter und Stiefsohn den
kirchlichen und weltlichen Vorschriften der Zeit widersprach, da sie als
inzestuös angesehen wurde, lassen zeitgenössische Quellen keinerlei
Verurteilung dieser Ehe erkennen. Dies spricht dafür, dass die Ehe trotz des
Verstoßes gegen die Ehevorschriften der Zeit anerkannt wurde.
Allerdings starb Æthelbald schon
860 und Judith kehrte zweifach verwitwet und kinderlos in das Frankenreich
zurück, wurde unter den Schutz des königlichen Vaters gestellt und unter
bischöflicher Bewachung in Senlis, einer der stärksten Festungen und dem
Schatzhaus Karls des Kahlen, festgehalten. Die Annales Bertiniani sprechen bei
dem Aufenthalt von Judith in Senlis gar von custodia (Gefängnis) und
auch hier boten sich Judith eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder das
Leben in solch strenger Haft leben oder darauf warten, erneut durch den Vater
verheiratet zu werden. Judith wählte aber einen dritten und umso
bemerkenswerteren Weg, der aufzeigt, dass sie sich nicht weiter dem
heiratspolitischen Spiel ihres Vaters beugen wollte.
Im Frühjahr 862 floh Judith
zusammen mit einem jungen Ritter namens Balduin aus Senlis. Balduin gehörte zum
Gefolge Ludwigs des Stammlers, dem Bruder Judiths und dieser Umstand
ermöglichte es vermutlich erst, dass Balduin überhaupt in der Vorzeit der
Zutritt zu Judith gewährt wurde. Schon vor der Flucht war eine wie auch immer
geartete Beziehung zwischen Judith und Balduin bekannt geworden, denn die
Annales Bertiani berichten, dass Karl der Kahle bei den Umständen der Flucht
von einer non incerto nuncio, also einer bekannten Botschaft, erfuhr und
direkt Senlis aufsuchte. Auch wenn Karl der Kahle mithilfe des fränkischen
Klerus' mit Nachdruck versuchte, Balduin des Frauenraubs zu bezichtigen, war
eine Verurteilung von kirchlicher Seite wegen des Raubs einer Witwe äußerst
schwierig, da Judith aus freiem Willen gefolgt war und Balduin keinerlei Gewalt
gegen Judith angewandt hatte. Zudem war die Heirat, die die Flucht von Balduin
und Judith krönen sollte von kirchlicher Seite alles andere als widerrechtlich,
da Judith als zweifache Witwe aus der Munt, das heißt aus der Gewalt des Vaters
über die Hausgemeinschaft, ausgetreten und nach fränkischem Recht mündig war,
selbstbestimmt eine Ehe einzugehen. Allerdings konnte nicht unbeachtet bleiben,
dass Balduin auf weltlicher Rechtsseite mit der Flucht die Bestimmungen Karls
des Kahlen gebrochen und das Recht seines Lehnsherrn verletzt hatte. Eine
Verurteilung nach weltlichem Recht war also rechtens und sorgte wohl dafür,
dass Judith und Balduin dennoch von kirchlicher Seite exkommuniziert wurden, da
gerade im 9. Jahrhundert die Kirche sich immer bemühte, die weltliche Gewalt
mit allen Mitteln zu stützen. Die Exkommunikation machte so die Anerkennung
einer Ehe unmöglich. Balduin und Judith flohen an den Hof Lothars II., der eben
wie oben erwähnt in einen eigenen Eheprozess verwickelt war, um nach
Unterstützung zu suchen. Hier am Hofe Lothars fand dann vermutlich auch die
Trauung von Judith und Balduin statt, die ja aber aufgrund der Exkommunikation
und des Bruches mit dem Königsschutz nicht anerkannt wurde. Da Lothar dem Paar
jedoch durch seine eigenen ehelichen Schwierigkeiten keinen ausreichenden
Schutz bieten konnte, flohen Judith und Balduin über die Alpen weiter zu Papst
Nikolaus I. nach Rom. Dort wurden die Flüchtenden vom Papst aus Gnade aufgenommen.
Das sich auf der Flucht befindliche Paar bat den Papst um seine Unterstützung
in der Auseinandersetzung mit Karl dem Kahlen und der fränkischen Geistlichkeit
bezüglich der Anerkennung der Heirat. Noch im selben Jahr 862 intervenierte
Papst Nikolaus I. in der Eheangelegenheit von Judith und Balduin und ließ Karl
den Kahlen mittels eines Briefes darüber unterrichten, dass beide den Papst um
die Unterstützung gebeten hatten und das er deshalb bischöfliche Legaten
geschickt habe, um durch diese um Milde und Verzeihung für die Geflohenen zu
bitten. Papst Nikolaus war sich bei diesem Vorgehen wahrscheinlich über die
Chance einer erfolgreichen Einflussnahme sehr bewusst, da Karl der Kahle schon
in der Vergangenheit immer um ein gutes Verhältnis zum Papst bemüht gewesen
war. Auch Irmintrude, die Frau Karls des Kahlen und Mutter Judiths, erhielt ein
päpstliches Schreiben. In diesem bat Papst Nikolaus I. auch diese um ihre
Unterstützung im vorliegenden Fall und der Einflussnahme auf ihren Gatten.
Erst jetzt lenkte Karl der Kahle
ein, da er vermutlich seine guten Beziehungen zur römischen Kurie nicht durch
Balduin verletzen wollte. Spätestens auf der Synode in Verberie an der Oise
863, bei der es ein erstes Wiedersehen von Karl dem Kahlen und Judith gab,
gestattete dieser die rechtmäßige Heirat zwischen Balduin und Judith, die dann
Mitte Dezember 863 unter Anwesenheit des Königs in Auxerre zelebriert wurde.
Erst jetzt sprechen die Quellen von einer legaliter coniugio, also einer rechtmäßigen
Eheverbindung.
Judith war es also spätestens im
Jahre 863 gelungen, sich das Selbstbestimmungsrecht zu erkämpfen und aus dem
strengen Schutz des eigenen Vaters auszubrechen. Trotz der langandauernden
Auseinandersetzungen mit der Kirche und ihrem Vater hielt sie zu Balduin, um
nicht erneut einer Zwangsverheiratung durch ihren Vater zum Opfer zu fallen.
Literatur
Saar, Stefan Christian: Ehe – Scheidung – Wiederheirat. Zur
Geschichte des Ehe- und des Ehescheidungsrechts im Frühmittelalter (6.-10.
Jahrhundert) (Ius Vivens. Rechtsgeschichtliche Abhandlungen 6), Münster 2002.
Sproemberg, Heinrich: Judith. Königin von
England, Gräfin von Flandern I, in: Revue Belge de Philologie et d'Histoire 15
(1936), S. 397-428.
Sproemberg, Heinrich: Judith. Königin von England, Gräfin von
Flandern II, in: Revue Belge de Philologie et d'Histoire 15 (1936), S. 915-949.
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