Der Vorharz-Leine-Raum im heutigen Bundesland Sachsen-Anhalt war einst das Stammesgebiet einer der wichtigsten Familien des „deutschen“ Früh- und Hochmittelalters. Die nach dem Stammesvater Liudolf benannten Liudolfinger stellten mit Heinrich I. ab 919 den ostfränkischen König und mit Otto dem Großen ab 962 das weltliche Oberhaupt, den römischen Kaiser. Der Aufstieg dieser sächsischen Adelsfamilie war nicht nur ein Ergebnis des Strebens nach Macht, sondern basierte auch auf einer Reihe von schicksalhaften Ereignissen und Zufällen. Der Geschichte König Heinrichs I. und seinem persönlichen Weg zum Königtum sind wir bereits in einem anderen Artikel nachgegangen. In diesem Artikel soll der Weg bis zu Heinrichs Königtum genauer in den Blick genommen werden. Der Aufstieg der Liudolfinger, die aufgrund der späteren Kaiser Otto I., II. und III. von der Forschung auch als Ottonen tituliert werden, ist der Prototyp einer Erfolgsgeschichte und zeigt die Möglichkeiten und Wege von Adelshäusern, in der Machthierarchie aufzusteigen.
Liudolf (805-866), der Urgroßvater des späteren Kaisers Otto I., besaß im sächsischen Vorharz-Leine-Raum ab ungefähr 840 Grafschaftsrechte, trug aber wohl nie den Titel eines Grafen. Diese Grafschaftsrechte umfassten Ordnungsaufgaben und die Handhabung von übertragenen königlichen Privilegien. Die Herkunft Liudolfs ist undurchsichtig und nicht eindeutig zu bestimmen. Es wird vermutet, dass seine Familie bereits vor ihm höhere karolingische Amtsträger in Sachsen stellte. Die Benennung seiner Eltern fällt aufgrund der fehlenden Quellen ungleich schwerer, sodass an dieser Stelle keine sichere Aussage getroffen werden kann. Liudolf schien jedoch mit einem gewissen Ehrgeiz ausgestattet zu sein, denn ihn zeichnete ohne Zweifel ein Machtstreben aus. Dieses Machtstreben zeigte sich bereits bei seiner Heirat: Die Hochzeit mit Oda, die aus dem fränkischen Hochadel der Billunger stammte, sollte seine Stellung in Sachsen aufgrund des Ansehens der Familie seiner Frau weiter ausbauen. Zudem nutzte er ein anderes Instrument adliger Herrschaftsbildung und -sicherung: Im Jahre 850 gründete er gemeinsam mit Bischof Altfrid von Hildesheim ein Frauenkloster in Brunshausen, bevor dieses im Jahr 881 nach Gandersheim umzog. Dieses Kloster wurde zudem zu einem Ort der Grablege und der Memoria, dem Beten für die Toten und das Erreichen des Seelenheils. Das Beten für das Seelenheil war im Mittelalter ein signifikanter Aspekt im Alltagsleben und die adligen Familien sorgten mit solchen Klostergründungen für ihr Seelenheil. Darüber hinaus diente eine solche Klostergründung der territorialen Absicherung. Der König gewährte dem Kloster schließlich sogar Immunität und stellte es unter seinen Schutz. Zusätzlich versicherte er, dass alle Äbtissinnen des Klosters aus der liudolfingischen Familie kommen sollte. Mit Weitsicht stellte Liudolf schon früh sicher, dass die Macht in seinem Herrschaftsgebiet zugunsten seiner Familie ausgebaut wurde.
Liudolf in einem vergrößerten Ausschnitt der oben zu sehenden Stammtafel / Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/3f/Liudolf%2C_Duke_of_Saxony.jpg |
Das Stift Gandersheim in Bad Gandersheim / Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/5c/Bad-gandersheim-2a.jpg |
Liudolf und Oda sicherten ihre Nachfolge durch die Geburt zweier Söhne, Otto (vor 866-912) und Brun (835-880). Beide erlangten sehr schnell relevanten Stellungen im Herrschaftsgefüge. Die jahrelangen Streitigkeiten um den Thron zwischen Arnulf von Kärnten und seinem Onkel Karl III. erzeugten um die Jahre 887 und 888 ein Machtvakuum im Reich. Arnulf besiegte schließlich seinen Onkel, aber der Konflikt hatte Spuren hinterlassen. Mehrere kleine Könige stießen in der Hoffnung auf einen Machtgewinn in das Machtvakuum vor. Liudolfs ältester Sohn Brun war zu dieser Zeit ein Heerführer und konnte sich in den Kämpfen beweisen. Als Heerführer war er gleichzeitig Stellvertreter des Herzogs, welcher wiederum Stellvertreter des Königs war. So konnte auch er in diesem Machtvakuum seine eigene Stellung ausbauen. Sein jüngerer Bruder Otto, der den Beinamen „der Erlauchte“ trug, wurde als Herr von höchstem Adelsrang tituliert. Es ist davon auszugehen, dass er mindestens den Rang eines Grafen innehatte; einige Quellen legen sogar die Vermutung nahe, dass er sogar den Rang eines Herzogs bekleidet haben könnte: In sächsischen Quellen und einem Dokument des späteren Königs Konrad I. wird er als dux tituliert; karolingische Quellen würdigten ihn lediglich als Grafen. Wie dem auch sei, Otto der Erlauchte errang eine Machtstellung, die die seines Vaters übertraf, denn als potentieller Herzog war er ein Stellvertreter des Königs des ostfränkischen Reiches. Zudem übernahm er die Ämter seines Bruders Brun, nachdem dieser in einer Schlacht erschlagen worden war. Von wahrscheinlich noch größerer Bedeutung war die Hochzeit seiner einzigen Tochter, Liudgard (gest. 885). Sie wurde mit dem ostfränkischen König Ludwig III., einem Karolinger, verheiratet und verband damit ihre Familie mit dem amtierenden Königsgeschlecht. Der gesellschaftliche und soziale Aufstieg der Liudolfinger schritt weiter voran und die Herrschaft der Liudolfinger in Sachsen erwies sich als fest etabliert.
Wie bereits beschrieben, spielte eine geschickte Heiratspolitik schon für Liudolfs Vater eine große Rolle. Liudolf war ebenfalls sehr bemüht, angemessene adlige Ehepartner für seine Kinder zu finden. Otto der Erlauchte heiratete Hadwig, die vermutlich eine Nicht des karolingischen Königs war und aus dem Adelsgeschlecht der Babenberger stammte. Die Babenberger besaßen zahlreiche Ländereien und Grafschaften in Thüringen und Hessen. Ihre gemeinsamen Kinder hießen Heinrich (876-936) und Oda, sowie Thankmar und Liudolf, die jedoch sehr früh starben. Heinrich wurde früh darauf vorbereitet, die Stellung seines Vaters zu übernehmen und sollte diese schließlich noch bis zur Königsherrschaft ausbauen. Oda wurde später mit Zwentibold von Lothringen, dem Sohn von Kaiser Arnulf von Kärnten (~ 850-899) verheiratet. Der Kaiser versuchte mit dieser Heirat den mächtigsten Mann in Sachsen an sich und die Herrscherfamilie zu binden.
Die Babenberger Fehde
Zum Ende des 9. Jahrhunderts sollte es zu Differenzen und Streitigkeiten im hessisch-mainfränkischen Gebiet kommen. Dort grenzten die Herrschaftsgebiete der Konradiner, die eng mit den Karolingern um Arnulf von Kärnten verwandt waren, und der Babenberger aneinander. Mit beiden rivalisierenden Adelsfamilien waren die Liudolfinger durch Heirat verbunden: Otto heiratete die Babenbergerin Hadwig; Ottos Tochter Oda war durch die Hochzeit mit Arnulfs Sohn Zwentibold mit den Karolingern und Konradiner verwandt. Um dies nochmal deutlich zu machen: Otto und sein Sohn Heinrich befanden sich in einer Problemsituation. Durch Heirat waren die Liudolfinger an beide rivalisierenden Adelshäuser gebunden. Sie schienen gezwungen, sich in dem Konflikt zu positionieren. Doch anders als erwartet, stellten sich auf keine Seite und hielten sich aus diesem Konflikt heraus. Die Fehde dauert letztlich bis 906 an und endete mit einer vernichtenden Niederlage der Babenberger, deren Familien im Laufe des Konfliktes entweder zu einem großen Teil getötet oder aus ihren politischen Ämtern verdrängt wurden, sodass die fränkischen Babenberger zukünftig keine politische Rolle mehr spielten.
An diesem Konflikt sind zwei Punkte deutlich zu erkennen: Durch kluge Heiratspolitik erreichte Otto der Erlauchte den Aufstieg in höchste machtpolitische Kreise. Dadurch schuf er jedoch auch Konfliktpotential, wie die Babenberger Fehde zeigt. Aber gemeinsam mit seinem Sohn Heinrich ließ er sich nicht für eine Seite vereinnahmen, sondern wartete ab. Aus heutiger Sicht scheinen sie vollkommen richtig gehandelt zu haben. Kurz vor seinem Tod soll Otto dem Erlauchten laut dem sächsischen Geschichtsschreiber Widukind von Corvey die Königskrone angeboten worden sein, als König Ludwig das Kind 911 ohne Nachkommen verstarb. Aufgrund seines fortgeschrittenen Alters soll er dieses Angebot jedoch abgelehnt haben. Auch wenn diese Episode wahrscheinlich nicht auf Tatsachen beruht, so zeigt sie doch, dass Otto ein mächtiger und hochangesehener Mann im Ostfrankenreich geworden war, der mit seinem Machtausbau die Grundlage für Heinrichs späteres Königtum und damit auch Ottos I. Kaisertum legte.
Otto der Erlauchte starb am 30. November 912 und wurde im Kloster Gandersheim bestattet. Sein Sohn Heinrich übernahm seine Ämter, darunter auch die des Herzogs. Obwohl König Konrad I., Nachfolger von Ludwig dem Kind, Heinrich nicht die volle Machtfülle seines Vaters gewähren wollte, errang Heinrich in den folgenden Jahren eine autonome Stellung des Herzogtums Sachsen und wurde schließlich 919 zum König gekrönt.
Zum Weiterlesen:
Gerd ALTHOFF, Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat, Stuttgart ²2005.
Matthias BECHER, Otto der Große, München 2012.
Wolfgang GIESE, Heinrich I., Begründer der ottonischen Herrschaft, Darmstadt 2008.Matthias BECHER, Otto der Große, München 2012.
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