Auch wenn es sich bei dem
Beruf der Wehe-Mutter oder Hebamme um einen der ältesten Frauenberufe überhaupt
handelt, sind doch für die Frühe Neuzeit nur wenige Hebammen namentlich
bekannt. Eine Ausnahme stellt Justina Siegemund dar, der es nicht nur gelang,
zur Hofhebamme am kurfürstlichen Hof von Brandenburg aufzusteigen, sondern auch
das 1690 veröffentlichte erste deutsche Lehrbuch für Hebammen zu verfassen. In
unserem neuesten Artikel soll das Leben dieser außergewöhnlichen Frau sowie ihr
Werk näher vorgestellt werden.
Frontispiz von 1752.
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d0/Justina_Siegmundin1.jpg
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Justina oder Justine Dittrich
wurde am 26. Dezember 1636 in Jauer (polnisch Jawor), einem kleinen Dorf in Schlesien,
geboren. Sie war die Tochter des im Dorf Rohnstock (Roztoka) tätigen
evangelischen Pfarrers Elias Dittrich, der ihr Lesen und Schreiben beibrachte –
eine keinesfalls gewöhnliche Bildung für Mädchen im 17. Jahrhundert. Im Jahr
1655 heiratete sie den Amtsschreiber Christian Siegemund. Die Ehe der beiden
blieb kinderlos, was eine Besonderheit im weiteren Lebensweg Justina Siegemunds
darstellt, da Hebammen im 17. Jahrhundert fast ausschließlich selbst Kinder zur
Welt gebracht hatten und somit ihr Wissen auch aus eigenen Erfahrungen schöpfen
konnten. Nach eigener Aussage war eine Art Scheinschwangerschaft der Grund
dafür, dass sie letztlich den Wunsch verspürte, dem Tätigkeitsbereich der
Hebamme nachzugehen. Im Alter von 21 Jahren war sie von vier Wehe-Müttern für
schwanger gehalten und nach 40 Wochen zur Entbindung gedrängt worden. Durch
dieses persönliche einschneidende Erlebnis und das Entsetzen über die
Unwissenheit der sie behandelnden Frauen sei bei ihr der Wunsch entstanden, sich
selbstständig Kenntnisse auf dem Gebiet der Geburtshilfe anzueignen, um anderen
Frauen helfen zu können. Von da an bildete sie sich durch die Lektüre
entsprechender, aber nicht genau benannter, Schriften zur Geburtshilfe und
Gynäkologie weiter. Nach zwei Jahren der Aneignung theoretischen Wissens soll
sie von einer Hebamme zu einer besonders schweren Geburt hinzu gerufen worden sein,
bei der sie ihre Kenntnisse erstmals in der Praxis anwenden konnte. Es ist
davon auszugehen, dass sich in der Folge zahlreiche solcher Situationen ergaben
und Justina Siegemund sich mehr und mehr als anerkannte Hebamme etablieren konnte,
die aber zunächst unentgeltlich arbeitete. 1670 nennen Quellen sie dann als Stadt-Wehe-Mutter
von Liegnitz (heute Legnica in Polen). Doch bereits in dieser Position musste
sie sich mit Kritik und Vorwürfen männlicher Autoritäten auseinandersetzen: Der
Liegnitzer Stadtarzt Dr. Martin Kerger (1622–1691) – gleichzeitig ihr
Konkurrent – warf ihr 1680 den Gebrauch gewalttätiger Praktiken im Geburtsvorgang
und den Einsatz geburtsfördernder Mittel vor. Das Gerichtsverfahren gestaltete
sich äußerst kompliziert und langwierig, da Kerger sich als Wahrer der
Hebammenordnung stilisierte, während Justina Siegemund zahlreiche Zeugen,
darunter von ihr betreute Frauen, deren Ehemänner und andere Hebammen,
vorbringen konnte, die sie entlasteten. In dieser schwierigen Situation berief schließlich
der sogenannte Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620-1688) die
mittlerweile weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Hebamme an seinen Hof
und ernannte Justina Siegemund dort zur Chur-Brandenburgischen
Hof-Wehemutter. Dadurch konnte sie sich dem weiteren Verlauf des Verfahrens
entziehen. Die Tatsache, dass Friedrich Wilhelm ihr das Vertrauen entgegenbrachte,
bei der Entbindung von Nachkommen der Dynastie der Hohenzollern behilflich zu
sein, zeugt von ihrem damaligen Ansehen und ihrer Kompetenz. Nachweislich half
Justina Siegemund der Tochter des Großen Kurfürsten, Herzogin Marie Amalie von
Sachsen-Zeitz (1670-1739), bei vier Entbindungen und sie war auch die Hebamme
bei der Geburt von Friedrich August II. (1696-1763), Sohn von Kurfürstin
Christiane Eberhardine (1671-1727) und August dem Starken (1670-1633). Justina
Siegemund ging ihrer Tätigkeit im Laufe der Jahre an mehreren Höfen nach, an
die die Hohenzollern sie vermittelt hatten und gelangte so unter anderem bis
nach Den Haag.
In der Folge entschied
sie sich dazu, eben jenes gesammelte Wissen auch in schriftlicher Form
festzuhalten und es somit anderen nicht akademisch gebildeten Hebammen und
interessierten Lesern zur Verfügung zu stellen. In der späteren Vorrede
beschrieb die sehr gläubige Frau ihre Motivation folgendermaßen: „daß mich
nichts anders/ auſſer dem vorgedachten Befehl/ und meinem Beruff/ zu dieſem
Druck gebracht/ als die Begierde meinem Nechſten zu dienen/ in der Zuverſicht/
daß vielleicht die itzund Bedencken tragen mich muͤndlich zu fragen/ durch
dieſe Schrifft Unterricht werden annehmen/ mit mehrerm Grund in vorfallenden
ſchwehren Geburten/ nuͤtzliche Dienſte zu leiſten“. Schon früher hatte sich
Justina Siegemund Notizen zu den von ihr begleiteten Geburten und besonders
komplizierten Fällen gemacht. Diese fasste sie nun zusammen, ergänzte sie durch
Erklärungen und brachte sie für ihr Buch in die Form eines Lehrgesprächs
zwischen zwei Wehe-Müttern. Jedoch war es für sie in zweifacher Hinsicht schwierig,
ein Buch zu veröffentlichen: Zum einen musste sie sich als weibliche Autorin auf
dem männlich dominierten Buchmarkt ihrer Zeit behaupten und ihre Schrift auf
eigene Kosten publizieren, zum anderen entstand ihr Werk zu einem Zeitpunkt, an
dem Ärzte im Zuge von Medizinalreformen vermehrt versuchten, die bis dahin
weiblich geprägte Geburtshilfe zu kontrollieren und die Hebammen in ihren
Befugnissen einzuschränken. Aus diesem Grund war Justina Siegemund gezwungen,
ihre Ausführungen, die ja medizinisches Wissen enthielten, zunächst der
medizinischen Fakultät an der Brandenburgischen Universität in Frankfurt an der
Oder vorzulegen. Nachdem sie 1689 die Erlaubnis erhalten hatte, ihr Werk zu
veröffentlichen, erschien es ein Jahr später erstmals unter dem Titel „Die
Chur-Brandenburgische Hoff-Wehe-Mutter/ Das ist: Ein höchst-nöthiger Unterricht/
Von schweren und unrecht-stehenden Geburten“. Der Untertitel lautete
„In einem Gespräch vorgestellet/ Wie nehmlich/ durch Göttlichen Beystand
eine wohl-unterrichtete und geübte Wehe-Mutter/ Mit Verstand und geschickter
Hand/ dergleichen verhüten/ oder wanns Noth ist/ das Kind wenden könne/ Durch
vieler Jahre Ubung/ selbst erfahren und wahr befunden.“
Titelblatt des Hebammen-Lehrbuches
der Justina Siegemund, Druck von 1723 (Erstausgabe 1690), Foto H.-P.Haack.
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/a/a2/Erstausgaben_f%C3%BCr_Wikipedia_V_009.jpg
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Der Vorrede ihres Buches,
in der sie auch ihren Lebensweg und ihre eigene Kinderlosigkeit reflektiert,
ist außerdem zu entnehmen, dass sie ihr Werk aus folgendem Grund verfasste: „Solchergeſtalt
iſt die-ſes Buch/ das lange/ wie in einer Geburt geſtecket/ ans Liecht
gekommen/ und ſol/ weil ich keine Kinder zur Welt gebohren/ das ſeyn/ was ich
der Welt hinterlaſſe.“ In neun Kapiteln widmete sie sich – immer wieder
unterbrochen durch autobiographische Passagen – unter anderem dem Aufbau des
weiblichen Uterus‘, möglichen Lagen des Kindes, bei der Geburt nützlichen
Hilfs- und Hausmitteln, aber auch Totgeburten und sie ging dabei auch auf die
Grenzen ihres Könnens ein.
Das hauptsächlich für
Hebammen konzipierte Lehrbuch, das neben Informationen zur praktischen
Geburtshilfe auch enorme Kenntnisse über Anatomie und Gynäkologie offenbart und
dessen Kupferstiche der Anschauung dienten, erwies sich über Jahre als äußerst
erfolgreich. Obwohl es von Medizinern – darunter der Leipziger Professor für
Anatomie und Chirurgie Andreas Petermann (1649-1703) – aufgrund seines
Ursprungs und der Vermittlung von nicht gelehrtem Wissen teilweise scharf
kritisiert wurde und der Vorwurf der „Geschwätzigkeit“ gegenüber der Verfasserin
im Raum stand, erschien es in zahlreichen Auflagen. Diese weisen jedoch
teilweise enorme Eingriffe in den Text auf und deuten den Prozess einer
Verwissenschaftlichung an. Auflagen können unter anderem für die Jahre 1708,
1715 sowie 1723/24, 1741, 1752 und 1756 nachgewiesen werden. Auch eine
Übertragung ins Niederländische fand statt.
Gedoppelter Handgriff,
Kupferstich aus der Auflage von 1723.
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/35/1690_Handgriff_der_Justine_Siegemundin.jpg
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Aus medizinischer
Perspektive bleiben vor allem zwei ‚Erfindungen‘ mit dem Namen Justina
Siegemund verbunden: Zum einen der sogenannte Gedoppelte Handgriff, mit dem sie
Kinder, die sich in geburtsunmöglichen Positionen befanden, in die Fußlage
drehen konnte. Hierzu führte sie ihre rechte Hand und mit Hilfe eines
Stöckchens zwei Bänder in die Gebärmutter der Frau ein. Die Bänder schlang sie
dann um die Beine des Kindes. Anschließend drehte sie mit ihrer rechten Hand
den Oberkörper des Kindes, während die linke Hand der Hebamme von außen an den
Bändern ziehen sollte, um somit die Füße des Kindes zum Gebärmutterausgang zu
bewegen. Zum anderen hinterließ Justina Siegemund die Skizze eines
Geburtsstuhls, der sich in ein Bett umbauen ließ.
Nur wenige Hebammen
gingen in der Frühen Neuzeit so weit, ihr Wissen in Lehrbüchern festzuhalten oder
verfügten über die nötigen Fähigkeiten, ihre Kenntnisse schriftlich zu
fixieren. Neben Justina Siegemund können hier die Französinnen Marie-Louise
Bourgeois (1536-1636) und Marie Anne Victorine Boivin (1773-1841) sowie Charlotte
Heidenreich von Siebold (1788-1859) genannt werden, die 1815 gar die
Ehrendoktorwürde der Entbindungskunst der Universität Gießen erhielt. Unbekannt
bleiben die Namen derjenigen Hebammen, die ihre gesammelten Kenntnisse Ärzten
mitteilten, die dann ohne Angaben ihrer Quellen Abhandlungen über die
Geburtshilfe verfassten.
Justina Siegemund starb
am 10. November 1705 im Alter von 68 Jahren in Berlin. Sie soll im Laufe ihres
Lebens 6.199 Kinder auf die Welt geholt haben, von denen 20 fürstlichen Familien
entstammten.
Zum Weiterlesen:
Siegemund, Justine:
Königliche Preußische und Chur-Brandenburgische Hof-Wehe-Mutter. Cölln (Spree),
1690. Online unter:
Specht, Susanne u. a.:
Bedeutende Hebammen in der Geschichte, in: Marita Metz-Becker (Hg.): Hebammenkunst
gestern und heute. Zur Kultur des Gebärens durch drei Jahrhunderte, Marburg
1999, S. 9-20.
Pulz, Waltraud: «Nicht
alles nach der Gelahrten Sinn geschrieben» – Das Hebammenanleitungsbuch von
Justina Siegemund. Zur Rekonstruktion geburtshilflichen Überlieferungswissens
frühneuzeitlicher Hebammen und seiner Bedeutung bei der Herausbildung der
modernen Geburtshilfe, München 1994.
Wilmanns, Juliane C.: Art.
Siegemundin, Sigmund(in) Justine, in: Wolfgang U. Eckart / Christoph Gradmann
(Hgg.): Ärzte Lexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart, 3. Aufl., Berlin 2006,
S. 303.
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