Sonntag, 30. Juli 2017

Der Untergang des Weißen Schiffes (1120) und dessen Auswirkungen auf die englische Thronfolge

No ship was ever productive of so much misery to England

So beschreibt der Chronist Wilhelm von Malmesbury (1080/95-um 1143) in seinen Gesta Regum Anglorum (dt. Die Taten der englischen Könige) die Katastrophe, die sich am 25. November 1120 vor der Küste von Barfleur in der Normandie ereignete: Ein neues, und mit der neuesten Technik der Zeit ausgestattetes Schiff, dazu angeheuert, den Nachwuchs des englische Hochadels über den Ärmelkanal zu befördern, lief unmittelbar nach der Abfahrt aus dem Hafen von Barfleur auf einen Felsen auf und sank. An Bord befanden sich auch drei Kinder des englischen Königs, Heinrich I. (1068-1135), unter ihnen sein einziger legitimer Sohn und Nachfolger William Ætheling (1103-1120). Wie bereits vom Chronisten angedeutet, sollte dieses Unglück den Lauf der englischen Geschichte für die folgenden Jahre maßgeblich bestimmen und viel Elend über Land und Leute bringen. Wie es zum Untergang kam und welche langfristigen Folgen dieser hatte, wollen wir in diesem kurz!-Artikel genauer betrachten.

König Heinrich I., der jüngste Sohn Wilhelms des Eroberers (1028-1087), herrschte seit dem Tod seines älteren Bruders William Rufus (1056-1100) über England. Zudem war es ihm 1106 gelungen, in einem bewaffneten Konflikt mit dem zweitältesten Bruder Robert Curthose (1051-1134) auch das Herzogtum Normandie unter seine Kontrolle zu bringen und somit das Erbe seines Vaters wieder in seiner Hand zu vereinen. Während Heinrichs I. Sohn William Ætheling als Thronfolger in England feststand, war die Angelegenheit in der Normandie keinesfalls so eindeutig: Das Herzogtum war ein Lehen des französischen Königs Ludwig VI. (1081-1137), der sich zunächst aus Furcht vor der großen Machtfülle der Normannen weigerte, Heinrichs I. Sohn als dessen Nachfolger zu akzeptieren. In der militärischen Auseinandersetzung auf französischem Boden unterlag er jedoch seinem englischen Gegner und musste sich schließlich dessen Willen beugen und die Nachfolge durch William Ætheling in der Normandie anerkennen.

Heinrich I. machte sich am 25. November 1120 auf der Höhe seiner Macht auf, in sein englisches Reich zurückzukehren. Wie der Chronist Orderic Vitalis (1075-1142) in seiner Historia Ecclesiastica berichtet, bat ein gewisser Thomas FitzStephen am Abend vor der Abfahrt um eine Audienz beim König. Er bot ihm an, sein Schiff zur Überfahrt in des Königs Dienste zu stellen wie einst sein Großvater, der Wilhelm den Eroberer 1066 auf dessen Weg nach England über den Ärmelkanal gebracht hatte. Sein Schiff, das ‘Blanche-Nef’ (dt. das Weiße Schiff) genannt wurde, sei “fitted out in the best manner, and perfectly adapted to receive a royal retinue”. Heinrich I., der für seine eigene Überfahrt bereits ein anderes Schiff gewählt hatte, entschied, dass FitzStephens Schiff seinen Sohn William und dessen Gefolge nach England bringen sollte. Am nächsten Tag, dem 25. November 1120, stach das Schiff des Königs in See, das Weiße Schiff, sollte wenig später folgen.

Den Abend der Abfahrt beschreibt Orderic wie folgt: 

The mariners were in great glee at hearing this, and greeting the king’s son with fair words asked him to give them something to drink. The prince gave orders that they should have three muids [altfranzösisches Maß für Flüssigkeiten]. No sooner was the wine delivered to them that they had a great drinking bout, and pledging to their comrades in full cups, indulged too much and became intoxicated.

Weiter berichtet er, dass auf Befehl des Königs neben dessen Sohn zahlreiche Barone mit ihren Söhnen an Bord gingen und er gibt an, dass sich insgesamt rund 300 Personen auf dem Schiff befanden, als es nach Einbruch der Dunkelheit schließlich in See stach. 

Auch Wilhelm von Malmesbury berichtet von der Trunkenheit von Besatzung und Passagieren: “When therefore, it was now dark night, these imprudent youths overwhelmed with liquor, launched the vessel from the shore.”. 

Der Prinz und seine Gefolgschaft trieben den beiden Quellen zufolge den Kapitän zur Eile an: Man wolle die königliche Flotte einholen und sogar vor dieser in England eintreffen. Die Mannschaft leistete den Wünschen Folge und das Unglück nahm seinen Lauf, wie wir von Orderic erfahren:

“[…] the sailors seized the oars without a moment’s delay, and, unconscious of the fate which was imminently impending, joyously handled the ropes and sails, and made the ship rush through the water at a great rate. But as the drunken rowers exerted themselves to the utmost in pulling the oars, and the luckless pilot steered at random and got the ship out of its due course, the starboard bow of the Blanche-Nef struck violently on a huge rock, which was left dry every day, when the tide is out and covered by waves at high water.

Das Schiff begann rasch zu sinken, doch um den englischen Thronfolger zu retten, wurde ein Rettungsboot zu Wasser gelassen. Als dieses sich jedoch mit William Ætheling an Bord entfernte, hörte dieser die Schreie seiner ertrinkenden Halbschwester Matilda, einer illegitimen Tochter König Heinrichs, die sich ebenfalls auf dem Schiff befunden hatte. Wie wir von William of Malmesbury erfahren, befahl der junge Prinz die Rückkehr zur Unglücksstelle, um sie zu retten. Damit hatte er sein eigenes Schicksal unwissentlich besiegelt: Zahlreiche Ertrinkende versuchten, sich an Bord des kleinen Bootes zu retten, sodass es kenterte und all seine Insassen, einschließlich Heinrichs I. einzigem legitimen Sohn und Thronfolger, ebenfalls im Meer vor Barfleur den Tod fanden. Einziger Überlebender der Tragödie war laut Orderic ein Metzger mit dem Namen Berold, der sich die ganze Nacht über am Mast des Schiffes festhalten konnte und am nächsten Morgen schließlich von Fischern gerettet wurde. Diesem wird es auch zugeschrieben, die Geschichte, wie der englische Prinz ertrank, um seine Schwester zu retten, nach seiner Rettung verbreitet zu haben.


Heinrich I. und der Untergang des Weißen Schiffes, 14. Jahrhundert, https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:The_White_Ship?uselang=de#/media/File:BL_Royal_20_A._ii,_f._6v._Henry_I_%26_White_Ship.jpg

Die Nachricht vom Untergang des Schiffes und dem Tod seines Erben erreichte König Heinrich I. erst am folgenden Tag, da sich zunächst niemand traute, ihm die Botschaft zu überbringen. Seine Reaktion beschreibt Orderic wie folgt: “Immediately, Henry fell to the ground, overcome with anguish.” Heinrich hatte bei dem Unglück nicht nur seinen einzigen legitimen Sohn William verloren sonder auch seine uneheliche Tochter Matilda und ein weiterer unehelicher Sohn namens Robert. Neben der persönlichen Tragödie hatte der Tod des Thronfolgers aber auch eine politische Dimension: Zwar hatte Heinrich im Laufe seines Lebens zahlreiche Kinder gezeugt (insgesamt kann von bis zu elf Söhnen und 16 Töchtern ausgegangen werden), doch waren nur sein Sohn William und seine Tochter Matilda (1102-1167), nicht besagte Matilda, die beim Untergang des Schiffes umkam, aus seiner Ehe hervorgegangen. Damit fehlte ihm nun ein Thronfolger, da es nicht üblich war, eine Frau als Nachfolgerin für den Königsthron zu bestimmen. Zudem hatten alle Hoffnungen für die Zukunft im Friedensprozess mit Frankreich auf der frisch geschlossenen Ehe William Æthelings mit Matilda von Anjou, der Tochter des Grafen von Anjou, geruht. Dieses Bündnis war mit dessen Tod beendet. 

Nun musste Heinrich I. handeln, um den Fortbestand seiner Dynastie zu sichern: Nach dem Tod seiner ersten Ehefrau Matilda von Schottland (1080-1118) im Jahre 1118 hatte er zunächst nicht wieder geheiratet. Doch jetzt stand er unter Druck, einen weiteren Thronfolger zu zeugen. Im Jahre 1121 fand deshalb die Hochzeit mit Adeliza von Louvain (1103-1151) statt. Die Ehe blieb jedoch kinderlos. Zunächst erwog Heinrich möglicherweise, einen seiner Neffen, unter ihnen Stefan von Blois (1092/96/97-1154), oder gar seinen illegitimen Sohn Robert von Gloucester zu seinem Nachfolger zu machen, doch änderte er seine Meinung, als im Jahre 1125 der Ehemann seiner einzigen ehelichen Tochter Matilda, kein Geringerer als der römisch-deutsche Kaiser Heinrich V. (1081/86-1125) starb. Bereits im Alter von 12 Jahren hatten die beiden geheiratet und Matilda war seitdem Kaiserin des römisch-deutschen Reiches gewesen. Nun holte ihr Vater sie zurück nach England und ließ erklären, dass sie im Falle seines Todes ohne männlichen Erben als Königin den Thron besteigen sollte. Mehrmals ließ er den englischen Hochadel Treueide zu Gunsten seiner Tochter leisten, um ihre Thronfolge sicherzustellen. Auch die Allianz mit dem Grafen von Anjou, die mit dem Tod des Thronfolgers obsolet geworden war, konnte er wieder etablieren: Es wurde eine Ehe zwischen Matilda und dem Sohn des Grafen, Gottfried (1113-1151), ausgehandelt, aus der zwei Söhne hervorgingen. 

Als Heinrich I. schließlich am 1. Dezember 1135 starb, hinterließ er sein Reich im Ungewissen. Matilda und ihr Mann befanden sich zum Zeitpunkt seines Todes in der Normandie und waren sich der weder der Unterstützung des normannischen noch des englischen Adels gewiss. Zudem hatten die englischen Großen auch nur widerwillig die geforderten Treueide auf Matilda abgelegt. Die Gunst der Stunde, die die Abwesenheit der designierten Thronfolgerin nach dem Tod des Königs bot, nutzte nun dessen Neffe Stefan von Blois für sich und erhob Anspruch auf den englischen Thron. Er eilte nach Westminster und ließ sich dort am 22. Dezember 1135 durch den Erzbischof von Canterbury zum König von England krönen. Matilda entschied sich jedoch, für ihren Anspruch auf den englischen Thron zu kämpfen. Es entbrannte ein Bürgerkrieg, der als ‘The Anarchy’ in die englische Geschichte einging und erst nach 19 Jahren mit dem Tod König Stephens I. und der Thronbesteigung von Matildas ältestem Sohn Heinrich II. endete. 

So ist es nur folgerichtig, wenn Wilhelm von Malmesbury, wie eingangs erwähnt, in seiner Chronik die Erzählung vom Untergang des ‘Blanche-Nef’ mit den Worten schließt, dass kein Schiff je so viel Elend über England gebracht hatte. Mit der Thronbesteigung von Matildas Sohn Heinrich II. (1133-1189) wurde die Herrschaft des Hauses Plantagenet über England begründet, das in indirekter Linie bis 1485 die englischen Könige stellte.



Zum Weiterlesen:

Hollister, C. Warren, Henry I, Suffolk 2001.
Jones, Kaye, The Medieval Anarchy. History in an Hour, 2012 (nur als eBook erhältlich).

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