Sonntag, 13. August 2017

Die æstel Alfred des Großen

Als er im Jahre 871 König von England wurde, stand Alfred der Große (849-899) vor schwierigen Aufgaben: Die Wikinger invadierten England, überrannten große Teile der Insel, plünderten auf ihren Wegen die Städte und besiegten die englischen Heere und siedelten sich schließlich vor Ort an. In dieser Situation hatte Alfred nur noch wenige Krieger zur Verfügung und wurde zurückgedrängt. Ab genau diesem Zeitpunkt beginnt die Legendenschreibung über den Mann, der die Wikinger besiegen und England wieder vereinen sollte. Nachdem die Invasoren besiegt worden waren, widmete sich Alfred der Konsolidierung seines Königreiches und dem Ausbau seiner Herrschaft. In diesem kurz!-Artikel sollen, neben der Person Alfreds und seinem Kampf gegen die Wikinger, zwei zentrale Aspekte dieses Herrschaftsausbaus betrachtet werden, die in den sogenannten æstel Ausdruck fanden und charakteristisch für Alfreds Vorstellungen waren: die symbolische Repräsentation seiner Herrschaft im säkularen Bereich sowie das Streben nach wisdom. Stellvertretend für diese æstel stellen werden in diesem Artikel das Alfred Jewel sowie die damit verbundenen Ziele und Vorstellungen Alfreds vorgestellt. 

Alfred der Große in einer mittelalterlichen Handschrift / Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/6d/Alfred_-_MS_Royal_14_B_VI.jpg



Alfred der Große wurde, vier Jahre nachdem die Great Heathen Army (heidnische Wikinger aus Dänemark) in England gelandet und das Land schrittweise von ihr erobert worden war, im Jahr 871 zum König von Wessex. Er folgte seinem Bruder Æthelred (837-871), der in der Schlacht von Merton gegen die Dänen verletzt worden und am 23. April 871 diesen Verletzungen letztlich erlegen war. Als sogenannter secundarius hatte Alfred bereits an der Seite seines älteren Bruders gemeinsam gegen die Invasoren gekämpft, sie hatten aber deren Vordringen nach Mercia und die anschließende Eroberung des Königreiches nicht unterbinden können. Nach dem Tode Æthelreds, kämpfte Alfred gegen die Wikinger um Wessex. In unzähligen Schlachten rieben sich das Königreich Wessex und seine Krieger in den folgenden Jahren auf, während die anderen englischen Königreiche bereits von den Invasoren erobert worden waren. Alfred stand mit dem Rücken zu Wand, denn auf dem Schlachtfeld konnte er zunächst keine Siege erringen. Er wurde von den Dänen zurückgedrängt, beinahe gefangengenommen und konnte sich 878 nur mit letzter Mühe nach Athelney, in die Grafschaft Somerset im Südwesten Englands, retten. War es Zufall, dass Alfred dorthin flüchtete? Sehr wahrscheinlich nicht. Denn die Landschaft in der Grafschaft war sehr sumpfig und es gab kaum begehbare Wege. Nur Einheimische kannten die verschlungenen Wege durch die Sümpfe. Zudem wusste Alfred wohl von einer antiken Festung auf der Isle of Athelney, deren Verteidigungsanlagen von Alfred und seinen Männern nachweislich ausgebessert wurden. Für Alfred und seine Begleiter, die die Unterstützung der einheimischen Bevölkerung auf ihrer Seite hatten, bot diese Region ein perfektes Versteck. Aus diesem Versteck heraus sammelte Alfred seine Kräfte und scharte eine Armee um sich, die später im selben Jahr den Dänen bei Edington eine empfindliche Niederlage zufügte. Guthrum (gest. um 890), der König der Dänen im Danelag (das eroberte Gebiet der Dänen in England), ließ sich anschließend vom streng gläubigen und frommen Alfred überzeugen, sich taufen zu lassen. Alfred war als Taufpate Zeuge der Taufe und der Namensänderung Guthrums, der von da an Æthelstan hieß. Anschließend zog er sich nach East Anglia zurück, wodurch Wessex nun weitgehend sicher war.

Alfred war nie dafür vorgesehen einmal König zu werden. Seine Eltern, Æthelwulf (König von Wessex von 839-858) und Osburga (geb. um 810), hatten vier Söhne, von denen Alfred der jüngste war. Wie es in adligen Familien üblich war, erhielten die Kinder eine umfassende Ausbildung. Er galt als sehr gelehrt, gebildet und fromm, war aber kein Krieger, auch wenn ihm dieses Attribut immer wieder zugeschrieben wurde. Er schaffte es dennoch mit Diplomatie und Überzeugungskraft, England und seine Bewohner schrittweise zu vereinen. Am Ende dieses Prozesses stand etwas, was die Bevölkerung Englands als ein gemeinsames Volk erscheinen ließ, dass sich erfolgreich gegen die Invasoren zur Wehr gesetzt hatte. Im späten 19. Jahrhundert wurde daraus ein Bewusstsein für die nationale Identität geschaffen, das auf diesen Ereignissen gründet. Mit dem Sieg bei Edington endeten die Angriffe der Dänen zwar nicht, sie wurden aber merklich weniger, sodass Alfred seinen Fokus auf die Sicherung und den Ausbau seiner Herrschaft legen konnte. 

Das Alfred Jewel / Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/30/Alfred-jewel-ashmolean.jpg


Die sogenannten æstel zeigen besonders einen Aspekt seiner Vorstellung von Herrschaft ganz deutlich: die persönliche, repräsentative Bedeutung und Verortung des Königs als einen zentralen Punkt des Königreiches. Der erste æstel, auch Alfred Juwel genannt, wurde im Jahr 1693, nur wenige Kilometer von Athelney entfernt, entdeckt und ist nun im Ashmolean Museum in Oxford zu sehen. Es ist etwas länger als 6 cm und zeigt ein kleines Bild eines Mannes, vermutlich Jesus Christus. Gleichzeitig ähnelt die Darstellung der Figur der sight, ein exemplarisches Konzept in den Vorstellungen Alfreds, das später noch genauer beschrieben wird. Gefertigt aus Emaille und Quarz, in der Form einer Träne gestaltet und eingeschlossen von Gold ist dieser æstel ein beeindruckendes historisches Zeugnis von Alfreds Bemühungen, seine Herrschaft symbolisch sichtbar zu machen. Dass Alfred dieses Werk in Auftrag gegeben hat, ist unbestritten und beweist die Inschrift: „AELFRED MEC HEHT GEWYRCAN“ (Alfred ordered me to be made.). Über die Jahrhunderte wurden dem æstel die unterschiedlichsten Verwendungsmöglichkeiten, beispielsweise als Lesezeichen, zugeschrieben.  Der æstel hat an der Unterseite einen Sockel, in dem ein Stab, vermutlich aus Holz, geschoben werden konnte. Die Frage nach dem wirklichen Verwendungszweck konnte nur gelöst werden, indem die Adressaten herausgefunden wurden. Alfred selbst schrieb im Vorwort seiner Übersetzung (vom Lateinischen ins Englische) des Werkes Liber Regula Pastoralis von Papst Gregor dem Großen (~540-604): 

“[…] and I will send one (je eine Übersetzung) to every bishopric in my kingdom; and in each there will be an æstel worth fifty mancuses. And in the name of God, I command that no one remove the æstel from the book, nor the book from the minster.”

Ein mancus war 30 Silberpennies oder eine Goldmünze (4,25g Gold) wert, was ungefähr dem Monatsgehalt eines ausgebildeten Arbeiters oder Soldaten entsprach. Die æstel wurden von Alfred also ausschließlich an die Bischofssitze in England verschickt und speziell für die Bischöfe angefertigt. Zudem wurde aus dem Kontext von anderen Werken geschlossen, dass das altenglische Wort æstel etwas wie Anleitung, Wegweiser oder Griff bedeuten können. Die lateinische Form hastella bedeutet wiederum Stiel oder Schaft. Die æstel wurden als Spitzen eines Zeigestocks beim Lesen eines Buches verwendet. Während ein Buch gelesen wurde, konnte die Tinte mit dem Finger leicht verwischt werden und Bücher so über die Zeit unleserlich machen. Ein æstel sollte dieses Problem vermeiden. Zudem ist es wahrscheinlich, dass es auch bei Predigten in der Kirche verwendet wurde. Dadurch, dass Alfred, der ein überaus frommer Mann gewesen war, die æstel seinen Bischöfen zusandte, stellte er die Signifikanz der Kirche und seine Übersetzung des Liber Regula Pastoralis für ihn selbst und das Königreich England heraus. Die Bistümer erhielten ein persönliches Geschenk und eine Wertschätzung des Königs, was ihre Stellung im Königreich hervorhob. Gleichzeitig repräsentierte er damit symbolisch seine Herrschaft über England, da er nicht an jedem Ort persönlich sein konnte, sondern dies nun im übertragenen Sinne in den jeweiligen Bistümern leisten konnte. Ein dritter Aspekt ist Alfreds persönliche Vorstellung von wisdom als ein übergeordnetes Ziel seiner Herrschaft. Das Streben danach sollte jeden Menschen in England, egal wie gebildet er war, leiten. In Alfreds Übersetzungen und Schriften betont er die Sicht/das Sehvermögen (sight) und die Augen, die mit dem Streben und der Verwirklichung von wisdom eng verknüpft sind. So lässt sich auch die Jesusfigur auf dem æstel als Verkörperung von wisdom einerseits, andererseits deren Augen als Weg zum Erreichen dieses Ziels interpretieren. 

Heute sind nur sieben solcher æstel bekannt, die sich jedoch sehr stark ähneln und derselben Periode zuzuordnen sind: The Bidford Bobble, The Borg Æstel, The Bowleaze Jewel, The Minster Lovell Jewel, The Warminster Jewel, The Yorkshire Æstel. Jede von ihnen ist zu einem Teil aus Gold gefertigt, jedoch sind alle kleiner als das hier vorgestellte Alfred Jewel. Letztgenannter æstel aus Yorkshire wurde im Jahr 2008 für 10,800₤ versteigert und befindet sich seitdem in Privatbesitz. Der einzige nicht in England entdeckte æstel wurde in der Ausgrabungsstätte Borg auf der Insel Vestvågøy auf den Lofoten entdeckt, ist aber dennoch englischer Herkunft. Es ist möglich, dass Alfred den æstel einem Händler namens Ottar, der von den Lofoten stammte, geschenkt hatte. Wahrscheinlich ist aber wohl, dass er als Teil eines Beuteguts auf die Lofoten gelangte.


Zum Weiterlesen:
Nicholas J. Higham, Martin J. Ryan, The Anglo-Saxon World, Yale 2013.
Leslie Webster, Anglo-Saxon Art, London 2012.
http://www.ashmolean.org/ash/objectofmonth/2005-04/theobject.htm

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