Im
Jahr 1607 wurde im heutigen US-Bundestaat Virginia die erste dauerhafte
englische Kolonie Jamestown gegründet. In der Frühphase wurde das Leben in der Siedlung
aber vor allem durch Misserfolge, Konflikte, Hunger, Krankheiten und Tod
geprägt. Der vollkommene Niedergang von Jamestown schien nur eine Frage der
Zeit zu sein. In diesem Artikel sollen sowohl die Gründung und Entwicklung der
Kolonie als auch die Probleme, mit denen die ersten Siedler konfrontiert waren,
beschrieben werden. Dabei wird es auch um einen 2013 gemachten Fund
menschlicher Knochen auf dem damaligen Gebiet gehen, der die Annahme zulässt,
dass es vor allem im sogenannten Hungerwinter von 1609/10 unter den Bewohnern zu
Kannibalismus gekommen sein könnte.
Unter
der Herrschaft von Elisabeth I. (1533-1603), die seit 1558 Königin von England
war, entwickelte sich die Idee, den Versuch einer Besiedelung des
amerikanischen Kontinents zu wagen. Ziele dieser Mission waren unter anderem
eine politische Schwächung Spaniens durch den Gewinn neuer Gebiete und
Absatzmärkte, ein Anwachsen des englischen Reichtums durch die Ressourcen, die
man in den zu gründenden Kolonien zu finden erwartete und schließlich die
Christianisierung der amerikanischen Ureinwohner. Die in den 1570er Jahren
unternommenen Versuche der Besiedelung scheiterten jedoch allesamt, mal durch
finanzielle Schwierigkeiten, mal durch Schiffsunglücke auf dem Weg nach
Nordamerika. Zwar gelang es den Engländern 1585 unter der Leitung des Seefahrers
Sir Walter Raleigh (1552/54-1618) erstmals eine Kolonie auf Roanoke Island an
der Küste des heutigen US-Bundesstaates North Carolina zu gründen, diese konnte
jedoch nur ein Jahr bestehen. Ein zweiter Versuch der Besiedelung der gleichen
Insel zwei Jahre später scheiterte ebenso und gibt bis heute Anlass zum
Rätseln: 1590 waren sämtliche drei Jahre zuvor zurückgelassenen Siedler ohne
jede Spur verschwunden.
Schließlich
sollte es bis 1606 dauern, dass die Gründung von englischen Kolonien unter
Elisabeths Nachfolger König Jakob I. (1566-1627) mit neuer Motivation und umso
entschlossener betrieben wurde. Es wurden zwei Gesellschaften gegründet – die
Plymouth Company und die Virginia Company of London – unter denen die
nordamerikanische Küste nach Breitengraden aufgeteilt wurde und die das Recht
erhielten, dort zu siedeln. Die Virginia Company of London entsandte im April
1607 drei Schiffe, auf denen sich insgesamt 104 Männer – Frauen und Kinder
sollten später nachkommen – befanden, um einen neuen Versuch der
Koloniegründung zu unternehmen. Die ausgewählten Männer entstammten vor allem
dem niedrigen Adel oder dem Bürgertum und waren zumeist zweitgeborene Söhne,
die sich ein besseres Leben in der neuen Welt erhofften. Auch Handwerker und
einfache Arbeiter befanden sich unter den Ausgewählten. Zudem sollen zahlreiche
Deutsche unter den ersten Siedlern gewesen sein, nachgewiesen ist
beispielsweise der aus Breslau stammende Arzt und Botaniker Johannes Fleischer.
Nach etwa einmonatiger Überfahrt erreichten die Schiffe die nordamerikanische
Küste und die Chesapeake Bay, die größte Flussmündung der USA. Von hier aus entschlossen
sich die Siedler, den James River zu erkunden, um einen geeigneten Platz für
die Gründung der Kolonie zu finden. Dabei hatte die Virginia Company of London
die Anordnung erlassen, dass die Ansiedlung auf einem bislang unbewohnten Stück
Land erfolgen sollte, um Überfälle und Konflikte mit den Ureinwohnern zu
vermeiden. Am 14. Mai 1607 entschieden sich die Männer für die im James River
liegende Insel Jamestown Island und gründeten Jamestown. Nach dem Entladen der
Schiffe hatte die Sicherung des Geländes, das von den Siedlern nach König Jakob
I. (James) zunächst James Fort, dann Jamestown genannt wurde, oberste
Priorität. Innerhalb von 19 Tagen wurde ein Fort errichtet, das zusätzlich von
einem dreieckigen Wall umgeben und mit Kanonen gesichert wurde, um den Schutz
der Kolonie zu gewährleisten.
Weitere
Zielsetzungen in der Folgezeit waren die Besitznahme von möglichst viel Land
für die englische Krone, die Suche nach Gold und Silber sowie weiteren
Reichtümern und der baldige Export von Gütern nach England. All diese Ziele
konnten zunächst jedoch nicht erreicht werden, da die Siedler bereits im Sommer
1607 mit den akuten Problemen vor Ort konfrontiert wurden. Dazu gehörten nicht
nur immer wieder Kämpfe und Auseinandersetzungen mit Mitgliedern der Powhatan-Konföderation,
einem Zusammenschluss aus 30 Stämmen, sondern hauptsächlich die schon bald
einsetzende Nahrungsmittelknappheit und das Fehlen von sauberem Trinkwasser.
Bereits nach sechs Wochen hatten die Kolonisten erste Todesopfer zu beklagen
und nach nur wenigen Monaten mussten sie feststellen, dass sich der vielerorts
sumpfige Boden der Insel nicht zum Ackerbau eignete und sich kaum noch Tiere
zum Jagen oder Früchte und Pflanzen zum Sammeln fanden. Häufig tranken sie
zudem das salzige Wasser des James Rivers oder verdrecktes Wasser aus
provisorisch angelegten Brunnen. Die schnelle Ausbreitung von Krankheiten war
die Folge. Von den 104 Männern, die die Insel erreicht hatten, lebten im
September nur noch knapp die Hälfte und nach dem Winter 1607/08 war die Zahl
der Überlebenden auf 38 gesunken. Johannes Fleischer starb wohl im Sommer 1608.
In dieser schwierigen Zeit übernahm John Smith (1580-1631), ein englischer
Söldner, die Leitung der Kolonie und ließ sich zum neuen Führer der
verbleibenden Siedler wählen. Ihm gelang es, die Lebensmittelversorgung der
Bewohner vorerst zu sichern, indem er auf Handelsmissionen in der Kolonie
vorhandene Gegenstände mit den Ureinwohnern gegen Lebensmittel tauschte. In
seinen Lebenserinnerungen berichtet er, dass die Kolonie während seiner
Abwesenheit jedes Mal dem Untergang nahe gewesen sei: „[…] all sick, the rest
some lame, some bruised – all unable to do anything but complain, […] many
dead, the harvest rotting and nothing done.”
Bei
einer Explosion von Schwarzpulver erlitt Smith 1609 schwere Verletzungen, die im
September seine Rückkehr nach England erforderlich machten. Mit seinem Weggang
endete eine Phase der relativen Stabilität in Jamestown. Die Führung der
Kolonie übernahm nun George Percy (1580-1627), in dessen Amtszeit im Winter
1609/10 die sogenannte Starving Time fiel, in der der Hunger und Krankheiten
erneut zunahmen. Zu diesem Zeitpunkt lebten in der Kolonie circa 200
Menschen, nachdem im Vorfeld weitere Schiffe angekommen waren, die nun auch
Frauen und Kinder gebracht hatten. Am Ende des Winters sollte es nur noch gut
60 Überlebende geben. In
einem Brief aus dem Jahr 1625 beschreibt Percy diese Hungerzeit im Rückblick
folgendermaßen: “Haveinge fedd upon our
horses and other beastes as longe as they Lasted, we weare gladd to make shifte
with vermin as doggs Catts, Ratts and myce…as to eate Bootes shoes or any other
leather. […] And now famin beginneinge to Looke gastely and pale in every face,
thatt notheinge was Spared to mainteyne Lyfe and to doe those things which
seame incredible, as to digge upp deade corpes outt of graves and to eate them.
And some have Licked upp the Bloode which hathe fallen from their weake
fellowes.” Lange Zeit galt diese Beschreibung, die offenbar
vorgekommene Fälle von Kannibalismus in Zeiten des größten Hungers thematisiert,
als Übertreibung Percys, der damit – so vermutete man – die Leistung des
Überlebens in Jamestown umso höher ansetzen wollte. Im Jahr 2013 fanden
Archäologen der Smithsonian Institution jedoch bei Ausgrabungen die Schädel-
und Schienbeinknochen eines etwa 14-jährigen Mädchens. Anhand zahlreicher
Untersuchungen konnten Werkzeug- und Axtspuren an den Knochen festgestellt
werden, die darauf hindeuten, dass das Fleisch und das Gehirn des Mädchens nach
ihrem Tod entfernt wurden, um womöglich in letzter Verzweiflung als Nahrung
verwendet zu werden. Douglas Owsley, Mitarbeiter der forensischen
Anthropologie des Smithsonian, kommt zu dem Schluss: „Given these bones in a
trash pit, all cut and chopped up, it's clear that this body was dismembered
for consumption.”
Nach
Ende des grausamen Winters beschlossen die 60 verbleibenden Siedler nach
England zurückzukehren und die Kolonie aufzugeben. Im Mai 1610 trafen jedoch
zwei Schiffe aus England ein, die reichlich Nachschub und Vorräte brachten. Auf
einem der Schiffe befand sich zudem der Landwirt John Rolfe, der schließlich
den Tabakanbau in der Kolonie einführte. Tabak wurde schon bald zum
erfolgreichsten Exportgut der Siedler, führte zu einer Art Waffenstillstand mit
den Ureinwohnern und sicherte Jamestown und seinen Bewohnern somit erstmals
dauerhaft das Überleben.
Nachdem
das Zentrum der Kolonie 1699 nach Williamsburg verlegt worden war, geriet die
Geschichte des Ortes vor allem im 18. und 19. Jahrhundert in Vergessenheit.
Seit 1934 ist Jamestown ein Teil des Colonial National Historical Park. Auf dem
ehemaligen Gebiet des Forts finden seit 1994 archäologische Ausgrabungen statt
und die Grundmauern können mittlerweile ebenso besichtigt werden wie Nachbauten
der historischen Schiffe.
Jamestown heute
mit John Smith-Denkmal
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Zum
Weiterlesen:
Doherty,
Kieran: Sea Venture. Shipwreck,
Survival, and the Salvation of Jamestown, New York 2008.
Kelso, William M.: Jamestown. The Buried Truth,
Charlottesville u. London 2006.
Kupperman, Karen Odahl: The Jamestown Project,
Cambridge 2008.
Stromberg, Joseph: Starving Settlers in Jamestown
Colony Resorted to Cannibalism, April 2013.
http://www.smithsonianmag.com/history/starving-settlers-in-jamestown-colony-resorted-to-cannibalism-46000815/
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