Sonntag, 26. März 2017

Eine Eheaffäre im 9. Jahrhundert – Engeltrude und Boso

Es ist egal, ob man den Fall Lothars II. betrachtet, der sich zugunsten seiner Konkubine Waldrada um die Scheidung von seiner Ehefrau Theurberga bemühte, oder die Angelegenheiten von Ludwig dem Stammler, der seine Ehefrau verstieß, um in zweiter Ehe Adelheid zu heiraten, und Judith von Flandern, die ohne Einverständnis ihres Vaters, Karl dem Kahlen, Balduin von Flandern heiratete, es lassen sich zahlreiche solcher Angelegenheiten im 9. Jahrhundert verzeichnen. Besonders der Fall Judiths zeigt, dass es im Frühmittelalter auch Frauen gab, die für ein selbstbestimmtes Leben innerhalb der patriarchalischen Gesellschafts- und Familienstrukturen kämpften. Im Mittelpunkt unseres heutigen kurz!-Artikels steht ein weiterer Fall, der zu den „berühmten Eheaffären des 9. Jahrhunderts“ gezählt werden kann und in dem es auch eine Frau war, die über Jahrzehnte alles dafür tat, ihr Leben nach eigenem Willen zu gestalten. 

856 sollte die Eheaffäre um Engeltrude (geb. 820), Tochter des Grafen Matfrid – es handelt sich um den 834 nach Italien gekommenen und 836 dort verstorbenen ehemaligen Grafen von Orléans – ihren Anfang nehmen und über zehn Jahre andauern. Im besagten Jahr verließ Engeltrude ihren Ehemann, den Grafen Boso, um ihrem Liebhaber Wanger, der ein Vasall Bosos war, nach Gallien zu folgen. Schon mit dieser Flucht hatte Engeltrude nach sowohl kirchlichem als auch weltlichem Recht jener Zeit Ehebruch begangen – die Quellen bezeichnen sie als apostatrix et adultera (Abtrünnige und Ehebrecherin) – und sich dadurch in Lebensgefahr begeben. Aufgrund des begangenen Ehebruchs hatte ihr Ehemann das Recht, seine Ehefrau und ihren Geliebten zu ermorden bzw. ermorden zu lassen. Dieses Recht beruhte auf der weitreichenden Munt („Herrschaft und Schutz“) des Mannes über seine Ehefrau, die als sein Besitz angesehen wurde. So heißt es etwa in einer Admonitio (Mahnung) Karls des Großen vom Beginn des 9. Jahrhunderts: Mulier sint subiecti viri sui. Da der Schutz des Ehemannes als ausreichend für eine Ehefrau betrachtet wurde, gab es für Engeltrude keine weiteren Schutzinstanzen, die sie in dieser Lage vor ihrem Ehemann hätten schützen können.

Boso bemühte sich nach der Flucht seiner Ehefrau um die Unterstützung der Kirche aufgrund des an ihm begangenen Ehebruchs und bat keinen geringeren als Papst Benedikt III. um Unterstützung. Dieser wies daraufhin nicht nur die Bischöfe, sondern auch den Kaiser, die fränkischen Könige und überhaupt die gesamte Christenheit an, Engeltrude ihrem Ehemann wieder auszuliefern. Aufgrund seines frühen Todes 858 blieb diese Intervention jedoch erfolglos. Nun lag es an seinem Nachfolger Papst Nikolaus I. (820-867) in der Angelegenheit zu vermitteln: Nikolaus I. wandte sich 860 ebenfalls in einem Brief an alle Bischöfe im Reich Karls des Kahlen (823-877), westfränkischer König und römischen Kaiser, und forderte diese zur Auslieferung Engeltrudes auf. Unterdessen ersuchte Boso auch direkt die Hilfe der Bischöfe und bat auf den Bischofssynoden um Anhörung: Zunächst brachte er sein Anliegen auf einer Synode, die vermutlich 859 unter dem Vorsitz des Erzbischofs Tado von Mailand in Mailand selbst stattgefunden hatte, vor. Auch Engeltrude war zu dieser Zusammenkunft vorgeladen worden, missachtete jedoch die Vorladung und wurde in Abwesenheit exkommuniziert. Im selben Jahr beschäftigten sich die Bischöfe der Synode von Savonnières ebenfalls mit dem an Boso begangenen Ehebruch.

Stifterbild aus dem Gebetbuch Karl des Kahlen, das zwischen 846 und 869 entstanden ist und als das älteste Gebetbuch gilt, das für den privaten Gebrauch entstanden ist.
https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_der_Kahle#/media/File:KarlderKahle.jpg
Aufgrund der Lebensgefahr, die von Boso und der Exkommunikation durch die Geistlichkeit ausging, blieb Engeltrude unterdessen nur die Flucht, die sie über das west- und ostfränkische Reich schließlich 860 an den Hof Lothars II. (835-869) – fränkischer König von 855 bis 869 – bzw. in die Diözese des Erzbischofs Gunthar von Köln (gest. 873) führte, der an der Synode von Savonnières teilgenommen hatte. Gleich nach der Ankunft Engeltrudes verfasste Gunthar ein Schreiben an Hinkmar, Erzbischof von Reims (800/810-882). Gunthar informierte Hinkmar darüber, dass Engeltrude in seine Diözese geflohen sei, dort ihre Schuld gestanden und um den Schutz des Bischofs ersucht habe. Darüber hinaus richtete der Erzbischof sich auch mit Fragen an den Erzbischof von Reims. Gunthar war im Unklaren darüber, ob es rechtens sei, einer Ehebrecherin Schutz zu gewähren oder ob es vielmehr seine bischöfliche Pflicht sei, diese an ihren Ehemann zu übergeben. Prompt antwortete Hinkmar auf das Schreiben des Erzbischofs von Köln: Engeltrude müsse umgehend an ihren Ehemann, von dem nun keine Gefahr mehr ausgehe, weil Boso versprochen habe, nachsichtig mit ihr zu sein, ausgeliefert werden. Daneben begründete Hinkmar die Auslieferung auch damit, dass Boso und Engeltrude durch die Eheschließung zu una caro (einem Fleisch) geworden seien und der Mensch nicht trennen dürfe, was Gott verbunden habe (Quod Deus iunxit, homo non separet). 

Dass Engeltrude an den Hof Lothars II. flüchtete, hatte vor allem taktische Gründe: Über ihren Ehemann Boso war sie eine Verwandte Lothars und durfte deshalb an seinem Hof auf Schutz hoffen. Dieser Schutz resultierte aber nicht nur aus den verwandtschaftlichen Verhältnissen, sondern auch aus der Situation, in welcher Lothar sich durch seine eigene Eheaffäre mit Theutberga selbst befand: Lothar leistete sich eine erbitterte Auseinandersetzung mit der Kirche, weil er sich von seiner Ehefrau Theutberga scheiden lassen wollte, um seine Konkubine Waldrada zu heiraten. Lothar II. nutzte die Anwesenheit Engeltrudes womöglich für eigene Zwecke: Es bot sich ihm die Möglichkeit, mit der Angelegenheit von Engeltrude und Boso einen Präzedenzfall zu schaffen, um so seinen eigenen Streit schneller abwickeln zu können.

Noch 860 wandte sich Papst Nikolaus I., der mittlerweile vom Aufenthaltsort Engeltrudes erfahren hatte, mit einem Brief an Karl den Kahlen und bat ihn darum, Lothar zu ermahnen, Engeltrude auszuliefern; zudem drohte er in dem Brief mit einer weiteren Exkommunikation. Lothar hielt jedoch am Schutz fest und begründete dies damit, dass es sich nicht gehöre, eine Frau und zudem Verwandte, die Todesangst vor ihrem Ehemann habe, an diesen zu übergeben. Auch der Kölner Erzbischof Gunthar missachtete die Weisungen Hinkmars von Reims und blieb untätig.

860 ersuchte Boso zusätzlich die Unterstützung der Synoden von Aachen und Toucy. Auch wenn auf beiden Synoden die Herausgabe Engeltrudes von den Bischöfen gefordert und diese erneut exkommuniziert wurde, blieben die Versuche Bosos erfolglos. Selbst nachdem sich 862 Karl der Kahle und Lothar II. in Toul getroffen hatten und Karl der Kahle sein Missfallen über den anhaltenden Schutz Engeltrudes durch Lothar augedrückt hatte, hielt Lothar II. am Zustand fest und verweigerte eine Auslieferung.

Dadurch, dass sowohl die westfränkischen Könige, als auch die Päpste und die Bischöfe der Synoden machtlos waren, wurde die Angelegenheit auf der Synode in Rom im Oktober 863 zu einem vorläufigen 'diplomatischen' Abschluss gebracht – Engeltrude befand sich mittlerweile seit sieben Jahren auf der Flucht und hatte sich durch keine Autorität dazu bewegen lassen, zu ihrem Mann zurückzukehren. Auf der Synode wurde die bereits zweimal ausgesprochene Exkommunikation Engeltrudes erneuert und jetzt auch auf ihre Helfer und Unterstützer ausgeweitet. Allerdings wurde ihr diesmal die Option der Vergebung angeboten, wenn sie zu Boso zurückkehre oder zur Buße an den apostolischen Stuhl trete; sollte sie diese Möglichkeiten nicht annehmen, würde jedoch der Kirchenbann fortgesetzt werden.

Erst 865 stellte sich Engeltrude dem päpstlichen Legaten Arsenius in Worms. Arsenius ließ sie zunächst einen Eid darauf schwören, dass sie zukünftig Boshaftigkeiten gegen ihren Ehemann unterlasse und unverzüglich mit nach Rom komme, um ihr dort die Möglichkeit der Buße zu geben. Trotz dieses Eides kam Engeltrude jedoch nie in Rom an: Nachdem der Tross von Arsenius die Donau überquert hatte, gab sie vor, bei Verwandten frische Pferde holen zu wollen, um danach in Augsburg wieder zu Arsenius und seinem Gefolge zu stoßen. Engeltrude brach aber mit ihrem Eid und stieß nie wieder zum Tross um Arsenius. Wahrscheinlich kehrte sie durch diese Finte zu ihrem Geliebten Wanger zurück.

Aufgrund dieses nefandissima scelera (unerhörtes Verbrechen) exkommunizierte Arsenius Engeltrude erneut und warnte alle Bischöfe in Gallien und der Germania – gemeint sind die Gebiete östlich des Rheins und nördlich der Donau – davor, die Flüchtige bei sich aufzunehmen. Boso änderte unterdessen sein Vorgehen: War es ihm bisher hauptsächlich darum gegangen, seine Ehefrau wiederzubekommen, kämpfte er nun darum, erneut heiraten zu dürfen. Papst Nikolaus klagte dieses Vorhaben als improbitas (Schlechtigkeit) an, denn die kirchenrechtlichen Bestimmungen jener Zeit verboten die Wiederheirat zu Lebzeiten des Partners im Falle eines vorliegenden Ehebruchs.

Leider ist weder vom weiteren persönlichen Schicksal Engeltrudes noch von dem Bosos etwas bekannt. Lediglich ein Brief von Papst Johannes VIII. (852-882) informiert darüber, dass Engeltrude auch 16 Jahre nach ihrer Flucht nicht zu Boso zurückgekehrt war, weswegen 872/3 eine erneute Exkommunikation ausgesprochen wurde. Ein Brief des Papstes aus dem Jahre 878 dokumentiert, dass sie zu dieser Zeit zwar bereits verstorben war, aber einen Sohn namens Godefrid hinterlassen hatte, der Anspruch auf sein Erbe erhob. Deutlich stellt Papst Johannes VIII. aber heraus, dass es sich bei Godefrid nicht um einen Sohn aus einer rechtmäßigen Ehe handele, sondern um einen unehelichen Sohn (spurius). 

Engeltrude kehrte also bis zu ihrem Lebensende nicht zu ihrem Ehemann zurück, sondern blieb bei ihrem Geliebten Wanger. Das bedeutet jedoch auch, dass es nicht nur Boso, sondern auch ihr Zeit ihres Lebens untersagt blieb, erneut zu heiraten. Engeltrude kämpfte damit bis zu ihrem Tod dafür, das Leben nach ihrem eigenen Willen zu gestalten. 

Zum Weiterlesen:
  • Esymol, Andrea: Geliebte oder Ehefrau? Konkubinen im frühen Mittelalter (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 57), Köln 2002.
  • Böhringer, Letha: Gewaltverzicht, Gesichtswahrung und Befriedigung durch Öffentlichkeit. Beobachtungen zur Entstehung des kirchlichen Eherechts im 9. Jahrhundert am Beispiel Hinkmars von Reims, in: Stefan Esders (Hg.): Rechtsverständnis und Konfliktbewältigung. Gerichtliche und außergerichtliche Strategien im Mittelalter, Köln; Weimar 2007, S. 255-289.
  • Heidecker, Karl: The Divorce of Lothar II. Christian Marriage and Political Power in the Carolingian World, Ithaca; London 2010.
  • Goetz, Hans-Werner: Frauen im Frühen Mittelalter. Frauenbild und Frauenleben im Frankenreich, Weimar; Köln 1995.
  • Saar, Stefan Christian: Ehe – Scheidung – Wiederheirat. Zur Geschichte des Ehe- und des Ehescheidungsrechts im Frühmittelalter (6.-10. Jahrhundert) (Ius Vivens. Rechtsgeschichtliche Abhandlungen 6), Münster 2002.

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