Sonntag, 29. Januar 2017

Die Kinderwallfahrten zum Mont-Saint-Michel

Wallfahrten hatten für das mittelalterliche Frömmigkeitsbewusstsein, das direkt mit der Verehrung von Reliquien und heiligen Stätten verbunden war, eine besondere Bedeutung. Vor allem im 15. Jahrhundert erfreuten sie sich großer Beliebtheit und wenngleich das Wallfahren in fernere Gebiete mit größerem Aufwand verbunden war, unternahmen immer mehr Menschen zumindest eine der peregrinationes maiores nach Jerusalem, Rom oder Santiago de Compostela. Dass sich aber Kinder im 15. Jahrhundert auf den Weg nach Frankreich machten, um zum Mont-Saint-Michel bzw. der dortigen gleichnamigen Abtei – eine der wichtigsten heiligen Stätten zu Ehren des Erzengels Michael – in der Normandie zu pilgern, erfuhr schon unter Zeitgenossen viel Beachtung und Verwunderung. Zwar sind erste Wallfahrten zum Mont-Saint-Michel schon seit dem 8. Jahrhundert überliefert und spätestens ab dem 11. Jahrhundert zogen Menschen aus ganz Europa dorthin. Dass von 1456/7-1459 allerdings Kinder nach Frankreich zogen, um den Erzengel zu verehren, war selbst für zeitgenössische Gelehrte ein Rätsel. In diesem kurz!-Artikel sollen diese spätmittelalterlichen Kinderwallfahrten zum Mont-Saint-Michel im Vordergrund stehen. Zunächst sollen die Besonderheiten dieser peregrinationes puerorum dargestellt werden, um danach zu versuchen, mögliche Beweggründe und Ursachen zu klären.

Buchmalerei mit der Darstellung des Mont-Saint-Michel bei Ebbe aus den Trés Riches Heures des Duc de Berry (um 1415). Über der Bergspitze kämpft der Erzengel Michael gegen einen Drachen.
(https://de.wikipedia.org/wiki/Le_Mont-Saint-Michel#/media/File:Folio_195r_-_The_Mass_of_Saint_Michael.jpg)

Mehrere Chroniken deutscher Städte berichten von den spätmittelalterlichen Kinderwallfahrten zur Benediktinerabtei südöstlich von Avranches. Die aus Köln stammende Cronica van der hilliger Stat van Coellen von 1499 dokumentiert: 
In dem selven jair [hier fälschlicherweise 1455] was ein groisse vart zo sent Michel in Normandien, dat is ein lant und herzochdom under dem koninge van Frankrich, ind dat werde wail bi (dauerte beinah) 2 jair, ind dat hoiven an clein kinderchin van 8, 9, 10 und 12 jairen uis allen landen, steden, dorpen, uis Duitschlant ind Welschlant ind ouch uis anderen landen.
Dieser kurze Abschnitt informiert nicht nur darüber, dass diese Kinderwallfahrten des Spätmittelalters etwa zwei Jahre anhielten, sondern auch, dass die teilnehmenden Kinder anscheinend nicht älter als 12 Jahre waren. Zudem seien nicht nur Kinder aus deutschen Städten und Dörfern in Richtung Frankreich aufgebrochen, sondern auch aus welschen (früher übliche Bezeichnung für romanische (lateinische) oder romanisierte keltische Völker) und anderen Ländern. Auch Eikhart Artzt's Chronik von Weißenburg dokumentiert, dass kinde von Basel, Slestadt (Sélestat), Colmar, Straßburg, Weyssenburg, Speyer, Worms, Meintzs, Creutzenach [...] zogent mit großen hauffen gein sant Michell und daneben berichtet 1457 auch der Augsburger Chronist Hektor Mülich von vil knaben vom Rein, ie zwai oder dreuhundert an ainem haufen. Die Lübecker Ratschronik belegt ebenfalls, dass um 1456 viele Kinder wolden wanderen in Vrankrike to deme monnikeclostere, dat dar ys geheten sunte Michaelisberch, während der Dortmunder Ratsherr Johann Kerkhörde die Vermutung nahelegt, dass auch Kinder aus Dortmund an den Kinderwallfahrten zum Mont-Saint-Michel beteiligt waren. So heißt es: Nu gengen vele kindere an groten hopen mit karmen to St. Michele. Deutlich an den Ausschnitten der zitierten Chroniken ist, dass meistens von Kindern (Mädchen und Jungen) die Rede ist, während der Augsburger Chronist nur von knaben spricht. Zwar kann aufgrund weniger Belege – die Chronicon magnum Belgicum spricht von multa centenaria Juvenum, utriusque sexus (viele hundert Kinder, beiderlei Geschlechts) – auch angenommen werden, dass Mädchen mit nach Frankreich zogen, allerdings wird die Mehrheit der wallfahrenden Kinder wohl Jungen gewesen sein. 

Heute ist nicht mehr rekonstruierbar, in welcher Stadt bzw. in welchen Städten die peregrinationes puerorum nach Frankreich ihren Ausgang nahmen. Die zitierten Chroniken zeigen aber, dass für Deutschland vor allem Kinder aus dem Rheinland und aus Südwestdeutschland an diesen beteiligt waren, während es kaum chronikale Aufzeichnungen gibt, die über Teilnehmer aus mittel- oder ostdeutschen Städten Auskunft geben. Auf dem Weg nach Frankreich zogen die Wallfahrenden durch zahlreiche Städte und immer wieder schlossen sich dort neue Gruppen von Kindern an. Dabei blieben die kinder die uis einre stat of uis eime dorp waren [...] zosamen (Cronica van der hilliger Stat van Coellen) und zogen, so berichtet es Eikhart Artzt, immer hinter einem panner, da der statt wappen an gemalet was, da sie dan her warent, und sant Michell zu der andern sytten. Die mitgeführten Fahnen waren dabei nicht nur ein Zeichen, dass die Kinder als Wallfahrer kennzeichnete, sondern auch ein Ersuchen um die Gegenwart und den Schutz des Erzengels während der langen Reise. 

Innerhalb der Wallfahrtsgruppen herrschte eine festgelegte Ordnung: Während die jüngsten Kinder vorausgingen, schlossen sich die älteren dahinter an. So organisiert waren die pilgernden Kinder jedoch wohl nur bei ihrem Zug durch Städte. Ein organisiertes und geordnetes Auftreten war gerade beim Betreten von Städten wichtig: Da das Betteln und Leben von Almosen wichtiger Bestandteil des mittelalterlichen Frömmigkeitslebens war, waren die Kindergruppen immer auf die Gunst der Städte bei der Versorgung und Verköstigung angewiesen. Ein geordnetes Auftreten unterstrich dabei die ernsten Absichten und führte in den meisten Fällen dazu, dass die Städte und Bürger sich der Kinder annahmen. Die Lübecker Ratschronik schildert in diesem Zusammenhang: 
unde wor se quemen in ene stad, so [...] ghinghen [die Kinder] up den market; da volghede em na dat volk in den steden […] unde dar beden (erbeten) denne de kyndere herberghe unde spise. aldus nam de ene twe, de andere drê myt syk to hus, so vele alse se herberghen wolden; unde des morghens vro werden se wedder under erer banner unde reyseden vortan.
Ähnliches ist in der Chronik Eikhart Artzt's für die Stadt Weißenburg überliefert. Nachdem die Wallfahrenden in der Stadt angekommen waren, gab die stat zu essen unt trinken uss dem rathaus. Andere Gruppen ließen sich durch Bittbriefe bei den Stadträten ankündigen. Ein Bittbrief aus dem Jahre 1457, der an die Räte und Schultheißen der Stadt Luzern gerichtet ist, trägt die Unterschrift: Wir wallenden kinder uff der vart gein dem liebn herren sanct Micheln, die sint von Zurch, Baden vnd vnßer lieben frowen zun ynsideln üwer demütigen bitter. Wenn die wallfahrenden Kinder die Städte zur Weiterreise wieder verließen, können außerhalb von diesen eher ordnungslose, aber dennoch gesittete Strukturen angenommen werden.

Die Chroniken von etwa Luzern oder Fribourg belegen, dass die aus Deutschland kommenden Kinder bei ihrer Wallfahrt nicht den direkten Weg entlang der Atlantikküste nach Frankreich wählten, sondern einen Umweg über die Schweiz auf sich nahmen. Heute ist es nur schwer möglich, die genauen Beweggründe für diesen Umweg offenzulegen. Vermutlich versuchten sie die bekannte Pilgerstraße nach Santiago de Compostela zu erreichen, da diese mit ihren zahlreichen Herbergen, Hospitälern und karitativen Institutionen gute Bedingungen für eine Wallfahrt bot. Daneben ist es auch möglich, dass das Unwissen über die genaue Lage des Mont-Saint-Michel dazu beitrug, dass der Wallfahrtsweg über die Schweiz verlängert wurde. Mehrere Chroniken deuten an, dass die genaue Lage der heiligen Stätte nicht ganz klar war: Während die Lübecker Ratschronik den Mont-Saint-Michel ghensit (jenseits) Pariis verortet, heißt es auch in einem zeitgenössischen Gesandtschaftsbrief nur sand Michel hinder Parys in das Mer.

Schon der Dortmunder Ratsherr dokumentiert, dass die Kinder während ihrer Reise mit karmen nach Frankreich zogen. Auch wenn karmen auf das mittelhochdeutsche karmîne (Trauern, Klagen) verweisen könnte, ist es doch wahrscheinlicher, dass hier Lieder (lat. carmen) gemeint sind, die während der Wallfahrt von den Kindern gesungen wurden. Diese Vermutung stützt auch der Eintrag von Eikhart Artzt in seiner Chronik. Dort heißt es, dass die layenknaben, da […] ir leysen (mittelalterliches deutschsprachiges Kirchenlied) [sangen] und [...] schuler [...], die sungent ihr Salve Regina und ander gesang.

Heutige Südansicht des Mont-Saint-Michel und der gleichnamigen Abtei.
(https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mont_Saint-Michel_France.jpg)
Bei ihrer Ankunft am Mont-Saint-Michel war das Weiterkommen dann von den Gezeiten abhängig: Denn aufgrund seiner Lage als Insel, konnte und kann das Heiligtum des Erzengels nur bei Ebbe betreten werden. Hatten die Kinder den Mont-Saint-Michel erreicht, wurden sie danach von dem dortigen Abt und Klerikern empfangen, um in einer Prozession zum Heiligtum zu ziehen. Nach der Prozession begingen die Kleriker mit den wallfahrenden Kindern gemeinsam das Messopfer, indem, so berichtet es etwa die Cronica van der hilliger Stat van Coellen, die Kinder offerden […] die vanen sent Michel. Üblich war daneben auch, dass die Fahnen nach der Messfeier wieder zurück in die Heimat mitgenommen wurden, um sie dann an die dortigen Kirchen zu übergeben. Nach den Feierlichkeiten am Heiligtum wurden dann vermutlich Ablassbriefe an die wallfahrenden Kinder verteilt, die diesen einen Nachlass zeitlicher Sündenstrafen gewährten.

Die Rückkehr der Kinder in die Heimat scheint zeitgenössischen Quellen zufolge sehr unterschiedlich verlaufen zu sein. Die Cronica van der hilliger Stat van Coellen berichtet, dass die Kinder quamen [...] widder gesunt zo lande, ind in wart overal up dem wege genoich van cost und drank gegeven. Gegenüber diesem guten Ausgang der Wallfahrt, berichtet der als Universalgeschichte angelegte Fasciculus temporum Werner Rolevincks jedoch, dass nur wenige Kinder aufgrund von Erschöpfung und einer Hungersnot – propter taedium itineris et famem quam patiebantur – nach Hause zurückkehrten.

Schon für zeitgenössische Gelehrte waren die Wallfahrten von Kindern zum Mont-Saint-Michel ein Rätsel. Neben der Begeisterung für den Enthusiasmus der Kinder stellten diese sich vor allem die Frage, was die Kinder dazu angetrieben hatte. Sie waren der Überzeugung, dass nur der Heilige Geist oder der Satan die Kinder dazu antreiben könne, alleine von zu Hause wegzuziehen. Dionysius der Kartäuser war davon überzeugt, dass die Kinder nach dem Willen Gottes handeln würden und dem Menschen es nicht zustehe, die Beweggründe Gottes für diese peregrinationes puerorum zu ergründen. Andere Gelehrte urteilten über die Beweggründe erst nach den Wallfahrten: Kämen die Kinder alle wieder gesund nach Hause, wäre der Heilige Geist die Kraft, die die Kinder angetrieben habe, würden die Kinderwallfahrten allerdings misslingen, so könne nur der Teufel dafür zuständig sein. Oft ist bisher über die Beweggründe diskutiert worden: War es die Neugierde des bei der Ebbe zurückweichenden Meeres, das die Kinder zum Mont-Saint-Michel zog? Waren die dort ausgegeben Ablassbriefe die ausschlaggebende Motivation? Oder waren die Kinder von der Macht des Erzengels – im Neuen Testament besiegt der Erzengel den Teufel in Gestalt eines Drachen – angetan und zogen deswegen zu seiner Verehrungsstätte? Diese genannten Gründe können schwerlich die Ursachen für die Kinderwallfahrten zum Mont-Saint-Michel sein, sondern mehr nur Begleiterscheinungen der eigentlichen Beweggründe, die weiterhin offen bleiben müssen. Dadurch, dass auch bis heute die genauen Ursachen nicht geklärt werden konnten, können anstelle dieser nur Vermutungen stehen. Noch heute können deshalb die Worte der Lübecker Ratschronik zitiert werden, die nichts an ihrer Aktualität eingebüßt haben: unde des vorwunderde syk mennich man, wente nement konde merken, wer (ob) yd was de werkinghe Godes edder [...] des duvels; mer alleman de vruchtede (fürchteten) syk, dat yd betekende (bezeichnete) wat quades (Böses) unde were en vorspok (schlechtes Vorzeichen) enes groten arges, alse orloghes (Krieg), pestilencie edder dure tiid (harte Zeit).

Zum Weiterlesen:
  • Gäbler, Ulrich: Die Kinderwallfahrten aus Deutschland und der Schweiz zum Mont-Saint-Michel 1456-1459, in: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 63 (1969), S. 221-331.
  • Hoenen, Maarten J.F.M.: Denys the Carthusian and Heymeric de Campo on the Pilgrimages of Children to Mont-Saint-Michel (1458). With a first Edition of Denys's Epistola de Cursu Puerorum and Heymeric's Determination super Peregratione Multorum Iuvenum, in: Archives d'Histoire Doctrinale et Littéraire du Moyen Age 61 (1994), S. 378-418.
  • Mantels, Wilhelm: Lied der nach Mont Saint Michel in der Normandie wallfahrenden Kinder, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 2 (1867), S. 538-541.

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