Es gibt nicht wenige Stimmen, die diese Zeichnung als eine der wichtigsten Hinterlassenschaften des Mittelalters bezeichnen und sie in einem Atemzug mit dem Teppich von Bayeux nennen: den St. Galler Klosterplan.
Fünf zusammengenähte Pergamentstreifen, die zusammen eine Fläche von 112 x 77,5 cm ergeben, zeigen bis zu 50 Gebäude, die zum Komplex des Klosters und der zentral abgebildeten Abteikirche gehören. Alleine die Fertigung aus fünf Pergamentstreifen zeigt das Bewusstsein des Auftraggebers etwas Wichtiges herzustellen, denn Pergament war im Mittelalter sehr wertvoll und kostbar; es konnte aber auch einen viel längeren Zeitraum als Papyrus überdauern. Wie wertvoll Pergament war, zeigen auch die Rückseite und der linke, untere Teil der Vorderseite: Dort wurde das Pergament Ende des 12./Anfang des 13. Jahrhunderts erneut benutzt und mit der Vita des Heiligen Martin beschrieben. Pergament als Beschreibstoff war also so kostbar, dass es sehr häufig mehrmals beschrieben wurde.
Was aber ist so wichtig, dass es auf diesen fünf Pergamentstreifen gezeichnet werden musste? Und was ist auf diesem Plan abgebildet und wie hilft er uns, das Mittelalter zu verstehen?
Eine ganz genaue Datierung des St. Galler Klosterplans ist nicht möglich, jedoch wird die Entstehung auf den Zeitraum von 820 bis 830 geschätzt. Der Plan gilt als Frucht der benediktinischen Reform aus den Jahren 816/817. Das Ziel dieser Reform war es, verbindliche gesetzliche und organisatorische Grundlagen für alle Mönchskloster im Frankenreich zu schaffen. Dabei ist dieser Plan aber nicht spontan entstanden, sondern es gab mindestens eine Skizze. Zusätzlich stand der hier abgebildete Plan am Ende eines längeren Prozesses, bei dem immer wieder etwas am Plan verändert wurde (sogenannte Rasuren – die Tinte wurde vom Pergament abgeschabt – zeugen von mehreren Korrekturen). Im Gegensatz zur Datierung ist der Entstehungsort mit der Klosterinsel Reichenau eindeutig, weil einer der beiden Schreiber des Plans definitiv der spätere Abt des Klosters, Reginbert, war. Um dies zu belegen, muss man paläographische – Paläographie ist eine Hilfswissenschaft der Geschichte un dbehscäftigt sich mit der Lehre von alten Schriften – Detektivarbeit leisten: Das Kloster Reichenau war eines der Zentren der alemannischen Minuskel (eine Variante der karolingischen Minuskel) und so benutzten einige Schreiber des Klosters diese Schrift, darunter nachweislich auch Reginbert, der anhand einer markanten, individuellen re-Ligatur (eine Ligatur zeichnet sich durch zwei zusammenhängende Buchstaben mit einem gemeinsamen Teil aus) auszumachen ist.
So fehlen nur noch der Auftraggeber des Plans sowie der Empfänger. Letzterer ist ebenfalls eindeutig zu benennen, denn in einer Widmung am Rande des Planes wird Abt Gozbert von St. Gallen (816-837) persönlich genannt. In dessen Amtszeit fallen wiederum nur zwei mögliche Auftraggeber: Abt Haito von der Reichenau (806-822) und dessen Nachfolger Abt Erlebald (823-838), der ein sehr gutes Verhältnis zur St. Galler Abtei pflegte. Diese Daten helfen letztlich auch zur Eingrenzung der oben getroffenen Datierung.
Was wir auf diesem Plan erkennen können, ist ein Vorschlag oder eine Art Layout für ein Kloster samt Abteikirche und anderen dazugehörigen Gebäuden im Sinne der Benediktinterregel, die bekannteste und wahrscheinlich wichtigste Regel für Klöster im Mittelalter. (http://geschichte-in-kurz.blogspot.de/2014/07/die-benediktinerregel-benedikts-von.html) Anhand dieser Regel wurden das Leben und der Tagesablauf eines Mönches genau bestimmt und letztlich im St. Galler Klosterplan visuell verdeutlicht. Es ist sicher zu sagen, dass dieser Vorschlag nur mit dem Bau der Abteikirche, die aber auch nur in vier von fünf Maßeinheiten dem Plan entspricht, realisiert wurde. Gleichzeitig ähnelte diese Abteikirche der Haito-Basilika auf der Reichenau – ein weiterer Beweis der Verbindung des Planes zur Reichenau. Anders als von der älteren Forschung zum Teil gemutmaßt, ist der Klosterplan kein Bauplan, denn es fehlen die Höhen, Baumaterialien, etc. Weiterhin erkennt man dies auch an den fehlenden Brunnen und möglichen Wasserverbindungen oder –leitungen.
Neben der großen Abteikirche gibt es zahlreiche weitere Gebäude, die für das Leben im Kloster zentral waren und den Anforderungen der Benediktinerregel entsprachen. Für alle Mönche zählte die Norm, dass die höchste Vollkommenheit nur in der Gemeinschaft erreicht werden konnte. Ein gemeinschaftlicher Tagesplan inklusive Gebet, Arbeit, Essen und Schlaf war also unabdingbar. Dieser Tagesplan spiegelt sich auch in den Einrichtungen innerhalb des Klaustrums (auch Klausur genannt: der abgeschlossene Teil eines Klosters) der wider: Ein Kapitelsaal (Versammlungsraum), ein Dormitorium, Küchen, Gartenanlagen, Werkstätten, Wirtschaftsgebäude, Waschräume, Ställe für Schweine und andere Nutztiere sowie Gänse- und Hühnerzwinger und ein Refektorium (Speisesaal) bezeugen die gemeinschaftlichen Tätigkeiten. Nebenbei deckten die Wirtschaftsgebäude, Werkstätten, Ställe – ausschließlicher Wirtschaftsfaktor, da der Verzehr von vierbeinigen Tieren verboten war – und Gartenanlagen auch die gewollte wirtschaftliche und organisatorische Autarkie ab.
Außerhalb des Klaustrums sind mehrere soziale Einrichtungen aufgezeichnet: ein Hospital für Kranke, Gästeunterkünfte mit Ess- und Wohnräumen sowie ein Hospiz für Pilger und Arme (Gebäude mittig oben und weiter unten auf dem Plan). Diese sozialen Einrichtungen sollten den in der Benediktinerregel geforderten Dienst an Christus gewährleisten, indem Fremde und Pilger aufgenommen sowie für Arme und Kranke gesorgt werden konnte.
Die in der Benediktinerregel genannte Ausnahmestellung des Abtes – ihm war der Kontakt mit der Umwelt erlaubt – zeigt sich in der Zeichnung des Abtshauses am linken Rand des Bildes (mit direkter Verbindung zur Kirche). Als Verbindung zwischen Kloster und Außenwelt hat das Abtshaus einen eigenen Repräsentations- und Empfangsraum mit eigener Küche und Dormitorium. Ein Kerker, der von der Aachener Synode 816 im Zuge der benediktinischen Reform gefordert wurde, ist nicht verzeichnet, denn die Benediktinerregel, und nach dieser richtet sich der Plan, nennt keinen Kerker, da das Kloster ein froher Ort sein sollte.
Obwohl der St. Galler Klosterplan also kein zu realisierender Bauplan ist, ist er als Idealplan für ein Kloster im Sinne der Benediktinerregel dennoch ein signifikantes Zeugnis des Mittelalters. Bis zur Entstehung des St. Galler Klosterplans fehlte vermutlich ein räumliches Organisationsschema für die Benediktinerklöster. Auch die Benediktinerregel selbst nennt kein solches Schema. Der Klosterplan stellt aber genau dieses Organisationsschema dar und unterstützte die Klöster so in der Regelung und Abstimmung des Alltags nach der Benediktinerregel.
Literaturhinweise:
„Regula Benedicti“. Die Benediktusregel, hrsg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz, Beuron 42006.
Jacobsen, Werner, Der Klosterplan von St. Gallen und die karolingische Architektur. Entwicklung und Wandel von Form und Bedeutung im fränkischen Kirchenbau zwischen 751 und 840, Berlin 1992.
Melville, Gert, Die Welt der mittelalterlichen Klöster. Geschichte und Lebensformen, München 2012.
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