Sonntag, 11. November 2018

Die Tanzwut von 1518

Im 14. und 15. Jahrhundert kam es im Gebiet um die Flüsse Rhein, Mosel und Maas vereinzelt zu sogenannten Tanzwutausbrüchen. Größere Gruppen von Menschen tanzten ohne erkennbare Ursache so lange, bis sie in Ekstase verfielen und teilweise nach einigen Tagen vor Erschöpfung zusammenbrachen oder in seltenen Fällen auch starben. Andere Begriffe, die dieses merkwürdige Phänomen beschreiben, waren Tanzkrankheit, Tanzplage, Tanzsucht, Tanzpest, Choreomanie, im Englischen dancing plague oder im Lateinischen epilepsia saltatoria. Bis heute konnte für diese Ausbrüche keine eindeutige Ursache festgestellt werden, vielmehr gibt es verschiedene Erklärungsansätze und Deutungsversuche. Im Jahr 1374 fand eine solche Tanzwut von Belgien bis zum Oberrhein statt. Die sogenannte Limburger Chronik berichtet darüber: „Anno 1374 Mitte des Sommers erhub sich ein wunderlich Ding auf Erden und sunderlich in Teutschen Landen, auf dem Rhein und auf der Mosel, also daß Leut anhuben zu danzen und zu rasen.“ 1463 sollen sich im Eifelgebiet ähnliche Ereignisse abgespielt haben und schließlich vor genau 500 Jahren im Jahr 1518 in Straßburg. Um die letztgenannte Tanzwut und ihre möglichen Gründe soll es in unserem neuen Artikel gehen.

Die Wallfahrt der der Fallsüchtigen nach Meulebeeck, ein Kupferstich von Hendrik Hondius nach einer Zeichnung von Pieter Bruegels des Älteren aus dem Jahre 1564.  https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/fa/Die_Wallfahrt_der_Fallsuechtigen_nach_Meulebeeck.jpg

Am 15. Juni oder Mitte Juli 1518 soll eine Frau, die in den Quellen Madame Troffea genannt wird, ihr Haus in Straßburg verlassen haben; sie soll auf die Straße getreten sein und plötzlich ohne erkennbare Ursache wie unter Zwang begonnen haben zu tanzen. Im Historisch-literarischen Anekdoten- und Exempelbuch aus dem Jahr 1824 heißt es dazu: „Dieses Tanzes Urheberin war ein Weib namens Troffer, eine halsstarrige, wetterwendische, tolle Kreatur, die alle Menschen, und ihren lieben Mann besonders, durch ihre Albernheiten recht zu ärgern gedachte. […] Ihr Mann mochte das Tanzen nicht leiden, um dennoch aber tanzen zu können, gab die Frau vor, sie könne, sie wisse nicht von was angetrieben, es nicht lassen.“ AugenzeugInnen sollen sie zunächst belächelt haben und dann erstaunt gewesen sein, da Madame Troffea schlicht nicht mehr aufhörte oder aufhören konnte, zu tanzen. Gleichzeitig sollen andere Menschen ebenfalls angefangen haben, sodass sich schließlich innerhalb der ersten Woche angeblich 34 Menschen kontinuierlich sowohl tags als auch nachts rhythmisch bewegten. Ende August 1518 sollen es in Straßburg schon einige hundert Menschen und in der Mehrheit arme Frauen gewesen sein, die wie bei einer Massenhysterie unkontrolliert tanzten. Eine elsässische Chronik berichtet: „Viel hundert fingen zu Straßburg an, zu tanzen und zu springen, Fraw und Mann, Am offenen Markt, Gassen und Straßen, Tag und Nacht ihrer viel nicht assen, Bis ihn‘ das Wüthen wieder gelag. St. Veits Tanz ward genannt die Plag.“ In ihren Bewegungen ließen sich diese Menschen nur durch akute Erschöpfung, plötzlichen Schlaf oder starke körperliche Schmerzen stoppen. Viele sollen irgendwann kollabiert sein. Auch finden sich Hinweise auf Todesfälle im Zuge der Tanzwut.

Der Rat und die Verwaltung der Stadt Straßburg hatten diesem Phänomen nichts entgegenzusetzen. Auch zu Rate gezogene Geistliche und Ärzte konnten nicht helfen. Anstatt zu versuchen, es wie auch immer zu beenden, verliehen die Ratsherren der Tanzwut zunächst den Schein der Normalität und der Ordnung. So ließen sie eine Bühne errichten und Musik spielen, sodass es auf den ersten Blick so scheinen musste, als würden sich die Betroffenen ganz normal bei einer Tanzveranstaltung dem Tanzen hingeben. Vor Übermüdung Zusammengebrochene ließ man von der Bühne bringen, die anderen tanzten ohne Pause weiter. Womöglich hoffte man durch dieses Vorgehen jedoch auch, dass die Betroffenen durch die Schnelligkeit ihrer Bewegungen, die noch durch rhythmische Musik gefördert wurden, mögliche Giftstoffe im Körper möglichst schnell ausschwitzen würden, wodurch man sich Besserung versprach.

Schließlich entwickelte sich die Idee, mit den Tänzern und Tänzerinnen zu einer Kapelle des Heiligen Vitus oder Veit (gestorben um 304) zu pilgern, da dieser als einer der vierzehn Nothelfer und als Schutzpatron der Tänzer verehrt wurde. Außerdem ist sein Gedenktag der 15. Juni, an dem – nach Aussagen mancher Quellen – die Tanzwut in Straßburg überhaupt erst ausgebrochen sein soll. In der Nähe der Stadt Saverne im Niederelsass befand sich solch eine Kapelle, zu der die Gruppe tanzend geführt wurde. Nachdem hier zunächst eine Messe gelesen worden war, erhielt jeder der Betroffenen ein Paar roter Schuhe, um damit den Schrein von Sankt Veit abzuschreiten. Die nachträglich verfasste Chronik des Festungsbaumeisters, Ingenieurs und Kartographen Daniel Specklin (1536-1589) aus Straßburg berichtet über diese Maßnahme: „An den Schuhen war unten und oben ein creutz mit balsam aus salböl gemacht und mit weywasser besprengt in St. Veits namen, da halff ihn vast allen.“ Tatsächlich hörten die Menschen, nachdem sie um den Schrein gegangen waren, so plötzlich mit dem Tanzen auf, wie sie einst begonnen hatten. Erinnern konnte sich keiner der Betroffenen an sein außergewöhnliches Verhalten der letzten Tage und Wochen. Auch begann niemand danach wieder mit dem unkontrollierten und zwanghaften Tanzen.

Sankt Vitus in Der Schedelschen Weltchronik, 1493.
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/96/Vitus_CXXVr.jpg

Schon damals rätselten die Zeitgenossen über die Auslöser und Gründe der Tanzwut. In Chroniken finden sich Berichte über das „heisse Blut“ der Tanzenden, der englische Arzt Thomas Sydenham (1624-1689) nahm hingegen eine Form von Epilepsie als Ursache an. Verschiedentlich wurde und wird bis heute hinter der Tanzsucht eine natürliche Krankheit vermutet. Entweder ist von Epilepsie die Rede oder es wird eine Entzündung des Gehirns vermutet oder die erbliche Krankheit Chorea Huntington, die ebenfalls das Gehirn befällt, dient zur Erklärung. Das Interessante hierbei ist, das ein seit dem 16. Jahrhundert bezeugter früherer Name für Chorea Huntington im deutschen Raum Veitstanz oder Großer Veitstanz ist, da der Heilige Veit als Helfer bei der Krankheit angerufen wurde. Häufig geäußerte Überlegungen, dass die Pest das Tanzen bedingt haben könnte und die Hysterie der Menschen im Angesicht des Schwarzen Todes widerspiegelte, gelten heute als widerlegt, da die Pest nachweislich zeitlich nicht gleichzeitig an den Orten, an denen das Tanzen beobachtet werden konnte, gewütet hat. Auch erscheinen die genannten Krankheiten als Ursache deshalb nicht schlüssig, da es sich bei ihnen um individuelle Krankheiten handelt, die nicht in Form einer Epidemie auftreten. Vielleicht handelte es sich bei ihr auch um das zufällige Aufeinandertreffen unterschiedlicher Phänomene, die aufgrund der äußeren ähnlichen Erscheinungsform von den Zeitgenossen und Chronisten zu einem zusammengefasst wurden. Der schweizerisch-österreichischer Arzt Paracelsus (1493/94-1541) zweifelte hingegen das ganze Phänomen der Tanzwut grundlegend an und vermutete vielmehr, dass es sich hierbei um massenhafte sexuelle Ausschweifungen handelte, weshalb er vorschlug, die Ereignisse als chorea lasciva zu bezeichnen.

Andere vermutete wiederum vielmehr eine pflanzliche Vergiftung beispielsweise durch Mutterkorn als Ursache des Tanzens. Dieser Pilz befällt häufig Nahrungs- und Futtergetreide wie Roggen und erweist sich für den Menschen als stark toxisch. Er kann Halluzinationen und Krämpfe auslösen. Gerade in Zeiten von schlechten Ernten und Hungersnöten, die es im 16. Jahrhundert häufiger gab, aßen die Menschen aus der Not heraus auch verschimmeltes Getreide. Allerdings beschreiben die regionalen Quellen nur das Tanzen und keine anderen Symptome. Ein weiterer Ansatz, der auf natürliche Erklärungen für die Tanzwut abzielt, nimmt den möglichen Biss durch giftige Tiere in den Blick. Womöglich könnte das Verhalten aus dem Biss der Europäischen Schwarzen Witwe resultiert haben, deren Gift starke und tagelange Muskelkrämpfe auslöst. Da sie aber vor allem nachts aktiv ist, wurde schon bald die größere Apulische Tarantel verdächtigt, die tagsüber aktiv ist. Erinnert sei hier an die Redensart „wie von der Tarantel gestochen“, die im Umfeld der Tanzwut ihren Ursprung haben soll, da sie meist unkontrolliertes Verhalten beschreibt. Bei diesem Erklärungsansatz stellt sich jedoch die Frage, wie plötzlich eine große Zahl von Menschen von diesen in den betreffenden Regionen doch nicht besonders weit verbreiteten Spinnen gebissen worden sein soll.

Während auf der einen Seite nach natürlichen Erklärungen für das Verhalten der Menschen gesucht wurde, finden sich auf der anderen Seite auch Ansätze, die den zeitgenössischen Glauben beziehungsweise Aberglauben der Menschen in den Blick nehmen. Denn während Sankt Vitus als Schutzpatron der Tänzer und als Retter von der Tanzwut gefeiert wurde, liegen auch zeitgenössische Schriften vor, die von einem Sankt Vitus-Fluch handeln. So habe Sankt Vitus die Menschen mit der Tanzsucht auch bestrafen können. Und je mehr Menschen diesem Fluch zum Opfer fielen, umso stärker wurde der Fluch und konnte noch mehr Menschen in seinen Bann ziehen. Womöglich könnte es sich bei dem exzessiven Tanzen aber auch um eine Form religiöser Ekstase im Angesicht der Heilsunsicherheit der Betroffenen gehandelt haben. Der Historiker Gregor Rohmann vermutet, dass unfreiwilliges Tanzen das Gefühl widerspiegelte, von Gott verlassen worden zu sein. Denn im Spätmittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit konkurrierten verschiedene Bewertungen des Tanzes miteinander. Geistliche bewerteten öffentliches Tanzen teilweise als teuflische Versuchung und als Bedrohung für das Seelenheil, während andererseits versucht wurde, durch Tanz Zugang zu den himmlischen Sphären zu erlangen. Aus diesem Dilemma heraus sollen sich unfreiwillige Tanzbewegungen als Zeichen von Gottverlassenheit entwickelt haben, die Rohmann als Form von Mania, also als göttlich inspirierten Wahnsinn, deutet. Oder sollte das Tanzen als möglicher Ausweg oder als extreme Form der Ablenkung vom irdischen Leben dienen?

Keine der geschilderten Erklärungen konnte bislang bewiesen werden oder sich allgemein durchsetzen. Somit muss das Phänomen der Tanzwut, das in zahlreichen schriftlichen und bildlichen Quellen rezipiert wurde, vorerst weiter ein Rätsel bleiben.

Zum Weiterlesen:
Donaldson, LJ u. a.: The Dancing Plague. A Public Health Conundrum, in: Public Health 111 (1997), S. 201-204.
Rohmann, Gregor: Vom „Enthusiasmus“ zur „Tanzwut“. Die Rezeption der platonischen „Mania“ in der mittelalterlichen Medizin, in: Jahrbuch Tanzforschung 21 (2011), S. 46-61.
Rohmann, Gregor: Tanzwut. Kosmos, Kirche und Mensch in der Bedeutungsgeschichte eines mittelalterlichen Krankheitskonzepts, Göttingen 2012.
Waller, John: A Time to Dance, A Time to Die. The Extraordinary Story of the Dancing Plague of 1518, Thriplow 2008.

1 Kommentar:

  1. Interessanter Artikel, spannend wie solche Phänomene in der Vergangenheit "behandelt" wurden (Errichten einer Bühne, Abspielen von Musik).
    Heute würde man dies aus medizinischer Sicht am ehesten als Massenhysterie klassifizieren. Der Umgang mit solchen Phänomenen in der jüngeren Geschichte ist da jedoch leider weniger einfallsreich. Vergleiche Lachepidemie( https://de.wikipedia.org/wiki/Tanganjika-Lachepidemie ) oder die Arjenyattah-Epidemie ( https://de.wikipedia.org/wiki/Arjenyattah-Epidemie )

    LG Joshi

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