Sonntag, 22. Oktober 2017

Nicolas Ferry – Zwerg am Hof des polnischen Königs

In der Frühen Neuzeit gab es an einigen europäischen Höfen das offizielle Amt des Hofzwerges, das kleinwüchsige Menschen – Männer und Frauen – innehaben konnten. Herrscher schmückten sich häufig mit ihnen, da diesen auf der einen Seite besondere Fähigkeiten zugeschrieben wurden. Auch galten sie als Glücksbringer, weshalb Adelige sie gerne in ihrer Nähe wussten. Auf der anderen Seite umgab Kleinwüchsige aber vor allem der Reiz des Skurrilen und Exotischen, weshalb sie an den Höfen wie Sammelobjekte und Besitztümer der Herrschenden behandelt wurden. Es galt als ein Zeichen von Reichtum und Macht, wenn Regierende ungewöhnlich gestaltete Menschen zu ihrem Hofstaat zählen konnten. In diesem kurz!-Artikel soll darum mit Nicolas Ferry (1741-1764), dem Hofzwerg des polnischen Königs Stanislaus I. Leszczyński (1677-1766), eines der bekanntesten Beispiele  vorgestellt werden.

Gemälde von Nicolas Ferry mit einem Bild des polnischen Königs, unbekannter Maler, 18. Jahrhundert
https://en.wikipedia.org/wiki/Nicolas_Ferry#/media/File:Nicolas_Ferry_-_NEAPOLITAN_SCHOOL.jpg

Nicolas Ferry wurde am 14. Oktober 1741 in der kleinen französischen Ortschaft Champenay als erstes Kind eines Landwirts und seiner Frau geboren. Bei seiner Geburt wog er gerade einmal 625 Gramm bei einer Körpergröße von 21 Zentimetern. Aufgrund dieser Maße finden sich in manchen späteren Beschreibungen über sein Leben Hinweise darauf, dass er bereits nach sieben Monaten zur Welt gekommen sein könnte. Andere Texte betonen hingegen, dass die Schwangerschaft der Mutter ganz regulär zu Ende gegangen sei. Obwohl niemand so richtig daran glaubte, dass dieses winzige Kind überleben könnte, gelang es seiner Mutter Anne Baron mit einem großen Maß an Einfallsreichtum für ihren Sohn zu sorgen. So soll sie einen Holzschuh zur Wiege umfunktioniert und eine besonders kleine Flasche erfunden haben, die in den kleinen Mund des Kindes passte. Es gelang ihr, ihren besonderen Sohn aufzuziehen, der sich trotz seiner geringen Körpergröße auch zunächst normal zu entwickeln schien. So konnte er schon bald sprechen und laufen.

Nicht verhindern konnte sie jedoch, dass sich Nicolas mehr und mehr zu einer Attraktion im Dorf und in der Umgebung entwickelte. Die Berichte über seinen Kleinwuchs zogen bald so weite Kreise, dass fünf Jahre nach seiner Geburt einige Hofdamen des polnischen Königs Stanislaus I. Leszczyński der Familie Ferry einen Besuch abstatteten, um einen Blick auf das besondere Kind zu werfen. Da die Tochter Stanislaus‘ mit dem französischen König Ludwig XV. (1710-1774) verheiratet war, waren ihm als Vater der Königin von Frankreich die Herzogtümer Lothringen und Bar übertragen worden. Aus diesem Grund residierte er mit seinem Hofstaat auf Schloss Lunéville und somit in der Nähe der Familie Ferry. Überaus begeistert kehrten die Hofdamen zum König zurück und berichteten ihm von ihren Erlebnissen mit dem Kind. Stanislaus, der die Möglichkeit der Aufwertung seiner Hofgesellschaft durch einen Hofzwerg witterte, entsandte den Arzt Monsieur Kast nach Champenay, um Nicolas untersuchen zu lassen. Dieser konnte außer der kleinen Körpergröße – Nicolas war zu diesem Zeitpunkt circa 60 Zentimeter groß – keine weiteren Auffälligkeiten feststellen, sondern er berichtete dem König vielmehr von einem hübschen und für seine Körpergröße wohl proportionierten kleinen Jungen. Aufgrund dieses positiven Resultats beschloss der König, Nicolas an seinen Hof zu bringen und ihn dort erziehen zu lassen. Die Eltern Ferry mussten sich diesem königlichen Befehl, der die dauerhafte Trennung von ihrem Sohn bedeutete, Folge leisten.

Stanislaus betrachtete den Hofzwerg von nun an als sein Eigenturm, was dadurch ersichtlich wird, dass er Nicolas bereits 1747 seiner Ehefrau Katharina Opalińska zum Geburtstag „schenkte“. Diese wiederum „verschenkte“ das Bébé, wie sie ihn von nun an nannte, noch im gleichen Jahr an ihre Cousine, eine Prinzessin de Talmont. Die angestrebte Ausbildung Ferrys auf Schloss Lunéville erwies sich allerdings als schwierig. Zwar lernte er den höfischen Sitten entsprechend auf Französisch zu kommunizieren und zu tanzen, er war aber nicht in der Lage, zu lesen und zu schreiben. Der König, der seinen Hofzwerg trotz wechselnder „Besitzverhältnisse“ weiterhin beaufsichtigte, stattete diesen mit wertvoller Kleidung aus und er ließ zahlreiche Dinge neu anfertigen, so dass Nicolas sie auch mit seiner geringen Körpergröße angemessen benutzen konnte. Dazu gehörten beispielsweise ein Wagen und ein kleines Haus, das in einen Saal des Schlosses gebaut wurde.

Mehr und mehr zeigten sich bei Nicolas jedoch Auffälligkeiten im Verhalten, vor allem, wenn er den Eindruck hatte, nicht genügend Aufmerksamkeit zu bekommen. Zwar akzeptierte der König dessen immer bösartiger werdende Streiche zunächst, da diese die Rolle von Hofzwerg und Hofnarr miteinander verbanden. Allerdings spitzte sich die Situation zu, als Ferry einen Hund der Prinzessin de Talmont aus dem Fenster warf und einen Rivalen um die Position des Hofzwergs versuchte ins Feuer zu stoßen. Dieser Rivale – Józef Boruwłaski (1739-1839) genannt Joujou – war 1759 neu an den Hof gekommen und zu diesem Zeitpunkt nicht nur noch kleiner als Nicolas Ferry, der mittlerweile 89 Zentimeter maß, sondern auch für seinen Humor und seine Intelligenz bekannt. Zum ersten Mal wurde Ferry daraufhin für sein Verhalten körperlich bestraft. Dieser missglückte Anschlag auf das Leben Boruwłaskis hatte jedoch zur Folge, dass dieser Schloss Lunéville schnell wieder verließ und im Anschluss durch halb Europa reiste, wo er seine geringe Körpergröße von abschließend nur 99 Zentimetern zur Schau stellte und damit ein Vermögen verdiente. Berichte über den „Kampf der Zwerge“ machten schon bald die Runde und zahlreiche Mediziner versuchten, die beiden in Bezug auf Körpergröße und Geisteszustand miteinander zu vergleichen. 

Porträt des Rivalen Józef Boruwłaski
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/fc/Joseph_Boruwlaski.jpg

Zur ungefähr gleichen Zeit verschlechterte sich der Gesundheitszustand Ferrys rapide und es setzte ein unaufhaltbarer Alterungsprozess ein. Sein Körper bildete einen Buckel aus, er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und er verlor all seine Zähne. Die Ärzte, die ihn konsultierten, waren zumeist ratlos und vermuteten einen Zusammenhang zwischen seinem Kleinwuchs und den einsetzenden pubertären Veränderungen des Körpers. Ferry magerte zusehends ab und war ab 1762 nicht mehr in der Lage aufzustehen. Schließlich starb er am 8. Juni 1764 im Alter von nur 22 Jahren.
Der Tod „seines“ Zwerges machte König Stanislaus schwer zu schaffen. Auf Drängen der Ärzte stimmte er aber schließlich einer Obduktion des Körpers zu, nachdem die Ärzte ihm versprochen hatten, im Anschluss das Skelett Ferrys zu präparieren und ihm wiederzubringen. Der Hofarzt sowie drei weitere Ärzte kamen bei der Autopsie abschließend zu dem Ergebnis, dass das Skelett Ferrys von Skoliose befallen gewesen wäre und er außerdem einen Tumor im Gehirn gehabt hätte. Seine weiteren Organe wären jedoch gesund gewesen. Stanislaus erhielt tatsächlich die Knochen Ferrys zurück, jedoch ungeordnet in einer Schachtel verpackt. Den Rest des Körpers ließ er feierlich bestatten.

Nach dem Tod des Königs im Jahr 1766 gelangte das Skelett nach Paris, wo es mehrfach untersucht und immer neue Diagnosen und vermeintliche Ursachen für den Kleinwuchs Ferrys entwickelt wurden. Der bekannte französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon (1707-1788), diagnostizierte beispielsweise eine besondere Form der Arthritis und er bemerkte außerdem, dass einige Knochen des Skeletts fehlten. Als Buffon schließlich den Auftrag erhielt, das Skelett wieder vollständig zusammenzubauen, musste er auf fremde Kinderknochen ausweichen. Weitere zeitgenössische und spätere Diagnosen reichten von Rachitis über eine angeborene Syphilis bis hin zum sogenannten Seckel-Syndrom, welches mit einer sehr stark ausgeprägten Form von Kleinwuchs einhergeht. Im Jahr 2000 vermutete der schwedische Arzt Jan Bodeson, dass Ferry unter Progerie litt, einer Krankheit, die einen überschnellen Alterungsprozess in Gang setzt.

Lebensgroße Nachbildung von Nicolas Fery im Musée lorain in Nancy
https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhO9su4UxWvYKcocRokjroi-kxaz-_I_12KbEWqr5k8fFOFMsSzElaNYE1zuQnwHElqcWJP8lA1T-Z3t86W1gGeiNp_dhHot1BN8vA3riCdT20vSY2kFdtfeQWP4TLcLozDbzyPg7CyLncU/s1600/Nancy+musee+Lorraine+Mannequin+Be%CC%81be%CC%81+1741-64.jpg

Heute befinden sich die sterblichen Überreste Ferrys im Musée du Château du Lunéville, sein Skelett im Musée de l’Homme in Paris. Mehrere Museen in Frankreich verwahren zudem Teile der extra angefertigten Kleidung Ferrys sowie ihn zeigende Gemälde in ihren Beständen. Außerdem gibt es häufig aus Wachs angefertigte Nachbildungen Ferrys, die in Deutschland unter anderem im Hessischen Landesmuseum in Kassel und im Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig betrachtet werden können. 

Zum Weiterlesen:
Adelson, Betty M.: The Lives of Dwarfs. Their Journey from Public Curiosity toward Social Liberation, New Brunswick 2005.
Bondeson, Jan: The Two-headed Boy, and Other Medical Marvels, Ithaca 2000.
Petrat, Gerhardt: Die letzten Narren und Zwerge bei Hofe. Reflexionen zu Herrschaft und Moral der Frühen Neuzeit, Bochum 1998.

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