Sonntag, 5. April 2015

François Gayot de Pitaval und seine Kriminalgeschichten

Im heutigen Artikel geht es um den Alten und den Neuen Pitaval, zwei äußerst beliebte Sammlungen historischer und zeitgenössischer Kriminalfälle aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Diese sind bereits im Artikel über die Giftmörderinnen kurz zur Sprache gekommen und sollen nun genauer vorgestellt werden. Heute sind beide Werke beinahe in Vergessenheit geraten und mit ihnen eine ganze Literaturgattung. Dabei ist ein Blick in beide Ausgaben auch weiterhin sehr lohnenswert, stellen sie doch die spannendsten, ungewöhnlichsten und zum Teil auch schaurigsten Verbrechen und Kriminalfälle ihrer Zeit dar und sind zudem größtenteils online verfügbar.

Seinen Ausgangspunkt nahm der Alte Pitaval bei einem französischen Juristen namens François Gayot de Pitaval (1673-1743). Dieser diente zunächst als Soldat in Lyon, bevor er ein Studium der Rechtswissenschaften aufnahm und 1713 seinen Abschluss machte. Er verließ Lyon und ging nach Paris, wo er schließlich in Diensten Ludwig XIV. am Gerichtshof, dem sogenannten Parlement, tätig war. Während seiner Anstellung dort begann er ab 1734 spannende Kriminalfälle seiner Zeit und die jeweils gesprochenen Urteile zusammen zu tragen. Bis zu seinem Tod im Jahr 1743 hatte er zwanzig Bände zusammengestellt, die zunächst unter dem Titel Causes célèbres et intéressantes, avec les jugemens qui les ont décidées (Berühmte und interessante Rechtsfälle mit den Urteilen, die sie entschieden haben) erschienen. Als Quellen für die wahrheitsgetreue und vollständige Schilderung der Verbrechen nutzte de Pitaval die originalen Prozessakten, auf welche er durch seine Tätigkeit als Jurist zugreifen konnte. Es ging ihm nicht nur darum, den eigentlichen Fall zu schildern, sondern auch darum, die Vorgeschichte, die Biographie des Täters oder der Täterin, Motive und schließlich den Prozess, die Verurteilung und die Strafe zu beschreiben. Auch finden sich in seinen Darstellungen der Fälle bereits Ansätze psychologischer Erklärungen für die begangenen Taten und Kritik an der harten Strafpraxis des französischen Ancien Régimes sowie an den Schwachstellen der Justiz. Zusätzlich legte er bei der Nacherzählung der Fälle ein gewisses schriftstellerisches Talent an den Tag und gestaltete seine Ausführungen durchaus spannend. Durch diese Elemente unterschieden sich die Causes célèbres et intéressantes von früheren Fallsammlungen, die von Juristen und Rechtsgelehrten rezipiert worden waren. Diese neue Gattung, die in der Theorie zwischen juristischen und literarischen Texten schwankte, wurde schnell zu einem frühneuzeitlichen Bestseller. Die Causes fanden sich in den meisten Bibliotheken und zahlreichen Haushalten der Zeit wieder und stellten für viele eine ansprechende und vor allem spannende Form der Unterhaltung dar, ähnlich vielleicht dem heutigen Erfolg mancher Krimis. Zwischen 1734 und 1789 erschienen ganze neun Ausgaben in 25 Auflagen bei 18 verschiedenen Verlegern. Das Original wurde hierbei teilweise übersetzt, überarbeitet, gekürzt oder es wurden ganze Teile neu geschrieben.


Deckblatt einer Ausgabe von 1747
https://covers.openlibrary.org/b/id/6848016-L.jpg

Dabei wurde die Sammlung von Fällen bald nur noch ausgehend von ihrem Namensgeber als Pitaval bezeichnet und sie erfreute sich einer immer größer werdenden Beliebtheit. E. T. A. Hoffmann (1776-1822) beispielsweise wurde erst durch die Lektüre des Alten Pitaval zu seiner Erzählung Das Fräulein von Scuderi inspiriert, welche 1821 erschien und sich mit rätselhaften Morden in Paris beschäftigt. 1792 wählte kein geringerer als Friedrich Schiller (1757-1805) einzelne Fälle aus dem Pitaval aus, um diese in einer kleineren Sammlung herauszugeben. Dieser stellte er ein Vorwort voran, in welchem er ausschließlich lobende Worte für das Werk fand: „Man findet in demselben eine Auswahl gerichtlicher Fälle, welche sich an Interesse der Handlung, an künstlicher Verwicklung und Mannigfaltigkeit der Gegenstände bis zum Roman erheben und dabei noch den Vorzug der historischen Wahrheit voraus haben. Man erblickt hier den Menschen in den verwickeltesten Lagen, welche die ganze Erwartung spannen, und deren Auflösung der Divinationsgabe des Lesers eine angenehme Beschäftigung gibt.“ Darüber hinaus regte Schiller in seiner Vorrede an, dass „[…] auch von andern Schriftstellern und aus andern Nationen (besonders, wo es sein kann, aus unserm Vaterland) wichtige Rechtsfälle aufzunehmen und dadurch allmählich diese Sammlung zu einem vollständigen Magazin für diese Gattung zu erheben [seien].“ Für den deutschsprachigen Raum erfüllte sich Schillers Hoffnung dann auch. Zwischen 1807 und 1811 erschienen Paul Johann Anselm von Feuerbachs Sammlungen Merkwürdiger Criminal-Rechtsfälle und zwischen 1841 und 1890 schließlich der sogenannte Neue Pitaval, der wiederum auf Feuerbachs Ausgabe basierte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war der Begriff Pitaval zum Oberbegriff für Sammlungen von Kriminalfällen geworden und es entwickelte sich eine starke Konkurrenz zwischen den einzelnen Sammlungen. Der Neue Pitaval, diese „Sammlung der interessantesten Kriminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit, wurde gemeinsam von Julius Eduard Hitzig (1780-1849), einem deutschen Juristen, Schriftsteller und Verleger, und Willibald Alexis (1789-1871), ebenfalls Schriftsteller, herausgegeben und brachte es letztlich auf insgesamt 60 Bände und circa 520 beschriebene Fälle. Seinen Vorgängern ähnlich standen auch hier vielmehr die Lebensläufe der Verbrecher im Fokus und wurden spannend und sprachlich ansprechend geschildert. Prozessakten stellen jedoch wiederum den Ausgangspunkt der Erzählungen dar und garantierten somit die wahre Begebenheit der geschilderten Tatabläufe.

Tatsächlich erfreuten sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts immer neue Pitavalgeschichten einer immensen Beliebtheit, das Lesen dieser gehörte insbesondere für das Bürgertum zum Alltag und einzelne Fälle wurden gar öffentlich diskutiert. Nach dem Ersten Weltkrieg verschwanden diese Geschichten dann beinahe vollständig vom Markt und gerieten weitgehend in Vergessenheit. Nur einzelne Fälle, wie beispielsweise jene der Giftmörderinnen, blieben im Gedächtnis und wurden weiter rezipiert.

Linktipps:

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen