Sonntag, 7. Dezember 2014

Das Erdbeben von Lissabon

Wissenschaftliche Fortschritte in nahezu allen Bereichen hatten das 17. und die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts geprägt. Isaac Newton (1643-1727) hatte seine Gravitationslehre vorgelegt, wissenschaftliche und religiöse Weltbilder näherten sich an und harmonierten beinahe miteinander, die Ideale der Aufklärung stießen vermehrt auf Resonanz und breiteten sich zusehends über den europäischen Kontinent aus und der Beherrschung der Natur durch den Menschen schien keine Grenzen mehr gesetzt. Vermutlich empfanden viele Zeitgenossen tatsächlich ein Gefühl der relativen Sicherheit, wenn nicht gar der Überlegenheit gegenüber der Natur. Dieser Optimismus sollte dann jedoch 1755 im wahrsten Sinne des Wortes erschüttert werden und wie zahlreiche Publikationen bereits in ihren Titeln aussagen, auch die Erschütterung der gesamten geistigen, wissenschaftlichen und kulturellen Welt nach sich ziehen. Die Rede ist vom Erdbeben von Lissabon, um das es im heutigen Artikel gehen soll.

Zeitgenössischer Kupferstich des Erdbebens


Am Morgen des 1. November 1755 gegen halb zehn ereignete sich ein See- und Erdbeben vor und in der portugiesischen Hafenstadt Lissabon, dessen Stärke heute mit Hilfe der Richterskala auf 8,5 geschätzt wird. Dabei lag das Epizentrum des Erdbebens in unmittelbarer Nähe zur Küste Lissabons und es kam zu insgesamt drei schweren Erdstößen, deren Auswirkungen wohl, wie zeitgenössische Quellen berichten, in ganz Europa und bis nach Afrika zu spüren gewesen waren. Nachdem bereits durch die drei Erdstöße zahlreiche Gebäude beschädigt oder zerstört worden waren, bildete sich zudem eine Flutwelle, die sich mit dem Fluss Tajo vereinigte, der bei Lissabon in den Atlantik mündet. Diese Wassermassen zerstörten vor allem die tieferliegenden Gebiete der Stadt und schließlich wurde eine Vielzahl von Gebäuden durch Brände vernichtet, die dadurch entstanden waren, dass Küchenherdfeuer in den Trümmern bereits zerstörter Häuser weiterbrannten und sich ausbreiteten. Zwar gibt es für 1755 keine genauen Angaben über die Einwohnerzahlen Lissabons, vermutlich lagen sie zwischen 250.000 und 300.000, aber vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass das Erdbeben circa 30.000 Menschen das Leben kostete. Andere Schätzungen sprechen von bis zu 100.000 Toten. Viele der katholischen Einwohner starben dabei unmittelbar in den Kirchen, welche sie zur Feier des Allerheiligengottesdienstes in den Morgenstunden besucht hatten. Die Stadt, welche für ihre Schönheit, ihre kostbaren Gebäude aus dem 16. Jahrhundert und ihren Reichtum bekannt war, wurde durch das Erdbeben und dessen Auswirkungen beinahe vollständig zerstört und lange Zeit war nicht klar, ob und wo die Stadt überhaupt wieder aufgebaut werden sollte.

Berichte über das Erdbeben und seine Folgen verbreiteten sich, so schnell es die Kommunikationswege der Zeit zuließen, über Europa und die Welt. Portugal und die Iberische Halbinsel gehörten dabei allerdings nicht zu den Hauptpunkten der europäischen Nachrichtenwege und zudem hatte das Erdbeben nicht nur zahlreiche Schiffe, sondern auch Großteile des Hafens zerstört, was eine Beförderung von Nachrichten erschwerte. So dauerte es teilweise mehrere Wochen, bis Nachrichten über das Erdbeben in bestimmten Regionen Europas eintrafen. Jedoch riefen die Geschehnisse dann die unterschiedlichsten Reaktionen und Verarbeitungen in Kunst und Literatur (Goethe, Kleist u. a.) und auch europaweite Solidaritätsbekundungen und Hilfsaktionen hervor. Zahlreiche Zeitungen veröffentlichten Augenzeugenberichte des Erdbebens oder druckten Gedichte ab, die sich mit der Katastrophe auseinandersetzten.

Schnell jedoch gerieten Tatsachenberichte und Erzählungen des Ablaufs innerhalb der Berichterstattung in den Hintergrund und es entwickelte sich mehr und mehr eine religiöse und geistige Debatte, in welcher sich die wissenschaftlichen Größen aus Theologie, Philosophie, Naturwissenschaft etc. der Zeit zu Wort meldeten. Dabei versuchten sie dem Erdbeben einen Sinn zu geben und Lehren aus der Katastrophe für die Zukunft der Menschheit zu ziehen. Beispielhaft sei hierbei nur auf die Philosophen Voltaire (1694-1778), Rousseau (1712-1778) und Immanuel Kant (1724-1804) verwiesen: Während Kant 1756 in seiner Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat versuchte, eine naturwissenschaftliche Erklärung für das Erdbeben zu finden, Voltaire 1756 sein Poème sur le désastre de Lisbonne verfasste, und sich darin mit der Frage auseinandersetzte, wie ein guter Gott solch eine Katastrophe zulassen könne (Theodizee), sah Rousseau die Ursache des Leids nicht bei Gott, sondern in der Verderbtheit der Menschen. Andere protestantische Auffassungen interpretierten das Erdbeben dabei als Strafe Gottes und als einen Aufruf zur Umkehr und Buße. Wieder andere Gelehrte diskutierten, warum es ein katholisches Land getroffen habe und noch dazu an Allerheiligen, wie es zu erklären sei, dass beinahe alle Kirchen der Stadt zerstört wurden, nicht aber das Rotlichtviertel usw. Während dieser Diskurs noch Jahrzehnte andauerte und immer neue Positionen und Erklärungsansätze hervorbrachte, führte das Erdbeben jedoch gleichzeitig auch zu einem vermehrten Interesse an Naturgewalten und den Ursachen und Auslösern von Erdbeben, weshalb das Erdbeben von Lissabon heute als Geburtsstunde der modernen Seismologie betrachtet wird.

Literatur:
Breidert, Wolfgang: Die Erschütterung der vollkommenen Welt. Die Wirkung des Erdbebens von Lissabon im Spiegel europäischer Zeitgenossen, Darmstadt 1994. 
Günther, Horst: Das Erdbeben von Lissabon und die Erschütterung des aufgeklärten Europa, Frankfurt am Main 2005.

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