Sonntag, 3. März 2019

Frühneuzeitliche ‚Steinkinder’


Bis zum heutigen Tag kennt die medizinische Forschung weniger als 300 Fälle von sogenannten Lithopädia: um 1880 waren gerade einmal 47 Fälle beschrieben worden. Bei einem Lithopädion handelt es sich um einen abgestorbenen Fötus, der meistens im Mutterleib durch die Aufnahme von Kalk zunächst eingekapselt und anschließend mumifiziert wird. In diesem Artikel soll es zunächst um das Phänomen, seine Ursachen und seine Ausprägungen an sich gehen, bevor dann die Vorstellung dreier frühneuzeitlicher Fälle erfolgt, die im Volksmund häufig als ‚Steinkinder’ bezeichnet werden: das ‚Steinkind von Sens’ in Frankreich (1554 bzw. 1582), das ‚Steinkind von Leinzell’ im heutigen Baden-Württemberg (1674 bzw. 1720) und das ‚Nebelsche Steinkind’ (1713 bzw. 1767), welches nach seinem Entdecker, dem Mediziner und Rektor der Universität Heidelberg Daniel Wilhelm Nebel (1735-1805) benannt wurde.


Der Begriff Lithopädion setzt sich aus den altgriechischen Wörtern für Stein (lithos) und Kindchen (paidion) zusammen und bedeutet so viel wie ‚Steinkindchen’. Zur Bildung eines Lithopädions kommt es, wenn in Folge einer Eileiter- oder einer Bauchhöhlenschwangerschaft der Fötus zunächst abstirbt und im Anschluss nicht vom Körper der Mutter resorbiert wird. Vielmehr wird der abgestorbene Fötus durch die Aufnahme von Kalk eingekapselt und in der Folge mumifiziert, wodurch er letztlich wie versteinert wirkt. Wie genau und warum es in manchen Fällen zu solch einer Verkalkung kommt, konnte bislang medizinisch nicht zweifelsfrei geklärt werden. Auch sind Fälle bekannt, bei denen nur die Membranen außerhalb des Fötus durch Kalkeinlagerungen innerhalb des Körpers verhärten oder nur der Fötus, nicht aber die äußere Membran. Erschwert wird das Erkennen dieser Fälle außerdem dadurch, dass die Mutter nicht zwangsläufig Bauch-, Rücken- oder Beckenschmerzen empfinden muss. Wie die später behandelten Fälle zeigen werden, kann es auch sein, dass die Frau keinerlei Symptome verspürt und das Phänomen somit zunächst unbemerkt bleibt. In der Vergangenheit wurden somit ‚Steinkinder’ teilweise erst nach dem Tod der Mutter bei einer anschließenden Obduktion entdeckt. Sollte es heute zur Bildung eines Lithopädions im Mutterleib kommen und dieses entdeckt werden, so wird es operativ entfernt. Allgemein festzuhalten bleibt jedoch, dass eine solche Bildung beim Menschen nur äußerst selten vorkommt, weshalb eine systematische Erforschung des Phänomens kaum möglich ist.

Bei dem ersten bekannt gewordenen Fall eines Lithopädions handelt es sich um das sogenannte ‚Steinkind von Sens’. Im Jahr 1554 war die mit einem Schneider verheiratete Französin Colombe Chatri aus Sens 40 Jahre alt. Den Quellen zufolge vermutete sie im gleichen Jahr schwanger zu sein. Nach rund neun Monaten setzten bei ihr die Wehen ein und ihre Fruchtblase platzte, ein Kind brachte sie jedoch nicht zur Welt. Die nächsten drei Jahre litt Chatri unter einer harten und schmerzhaften Schwellung ihres Bauches und sie konnte kaum ihr Bett verlassen. Später besserte sich ihr Zustand, bevor sie schließlich im Jahr 1582 im Alter von 68 Jahren verstarb. Nach ihrem Tod entschied sich ihr Ehemann dazu, seine Frau obduzieren zu lassen, um der Ursache der damaligen merkwürdigen Vorkommnisse rund um die Schwangerschaft auf den Grund gehen zu können. Bei der Obduktion, an der zahlreiche Ärzte und Schaulustige teilnahmen, fand man im Körper der Frau ein versteinertes zunächst nicht zu identifizierendes Gebilde, das nur mit Gewalt geöffnet werden konnte. Hierbei wurde die äußere Hülle vollends zerstört und die rechte Hand des Kindes versehentlich abgeschlagen. Zum Vorschein kam dann ein vollentwickeltes versteinertes Mädchen, das bereits einen Zahn hatte und sich in hockender Stellung befand. Zahlreiche Mediziner der Zeit beschäftigten sich mit dieser Sensation und suchten nach Gründen für die Versteinerung des Kindes. Der französische Arzt Jean d’Ailleboust vermutete so beispielsweise in seiner im gleichen Jahr erschienenen Schrift Portentosum Lithopaedion, sive Embryum Petrificatum Urbis Senonensis, dass das Blut der Mutter zu trocken gewesen sei und somit das Kind ausgetrocknet habe. In der französischen Übersetzung Le prodigieux enfant pétrifié de la ville de Sens, die vom Arzt Siméon de Provanchères herausgegeben wurde, wird die angeblich zu niedrige Temperatur im Mutterleib als Ursache genannt.

Neben der vielfältigen schriftlichen Beschäftigung mit dem Ereignis kursierten auch zahlreiche Bilder und Zeichnungen und das ‚Steinkind von Sens’ wurde aufgrund seiner zeitgenössischen Einzigartigkeit zu einem beliebten Objekt bei Sammlern von Kuriositäten: Zunächst ging es in den Besitz eines Pariser Kaufmanns über, der es in einem privaten Museum ausstellte. Später erwarb es ein Pariser Goldschmied, der es anschließend im Jahr 1628 an einen Juwelenhändler in Venedig verkaufte. Hier wurde der berühmte dänische Anatom Thomas Bartholin (1616-1680) auf das Objekt aufmerksam und informierte vermutlich den dänischen König Friedrich III. (1609-1670) über dessen Existenz. Ab 1653 konnte es in königlichem Besitz nachgewiesen werden. 1820 wurde die königliche Sammlung schließlich aufgelöst und das Steinkind wanderte sechs Jahre später ins Dänische Museum für Naturgeschichte. Am Ende des 19. Jahrhunderts gingen die Bestände des Museums in das Zoologische Museum Kopenhagen über. Zu diesem Zeitpunkt war das ‚Steinkind von Sens’ jedoch bereits verschwunden und bis heute konnte über seinen weiteren Verbleib nichts in Erfahrung gebracht werden. Aus Berichten, die aus immer wieder erfolgten medizinischen Untersuchungen des Objekts resultierten, ist nur bekannt, dass ihm irgendwann beide Arme abgebrochen worden waren und es zu einer Schwarzfärbung der Haut gekommen war beziehungsweise diese sich an manchen Stellen auch bereits völlig ab- oder aufgelöst hatte.

Thomas Bartholins Zeichnung des Steinkinds von Sens’
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b8/Steinkind_von_Sens_Bartholin.jpg
Im Mittelpunkt des zweiten Falls – dem ‚Steinkind von Leinzell’ – steht eine Frau namens Anna Müller. Diese verspürte Berichten zufolge im Jahr 1674 über sieben Wochen lang Wehen ohne jedoch ein Kind zur Welt zu bringen. Obwohl hier ebenfalls das ‚Steinkind im Körper verblieb, konnte sie in den folgenden Jahren noch einen Sohn und eine Tochter gebären. Da sie selbst jedoch davon überzeugt war, dass sich in ihrem Körper noch ein weiteres Kind befinden müsse und sie unter Schmerzen litt, gab sie die Obduktion ihres Körpers nach ihrem Tod in Auftrag. Der Chirurg Knaus von Heubach kam schließlich ihrem Wunsch nach, nachdem sie 1720 mit 91 oder 94 Jahren in Leinzell gestorben war. Knaus fand 46 Jahre nach der erlebten Schwangerschaft eine circa kürbisgroße verkalkte Kapsel, die nur mit einem Beil geöffnet werden konnte. Darin entdeckte er einen gut erhaltenen bräunlichen männlichen Fötus, von dem Johann Georg Steigerthal (1666-1740), späterer Leibarzt von Georg I., schließlich die erste Zeichnung anfertigte. Ähnlich wie das ‚Steinkind von Sens’ wurde es dann mehrfach an verschiedene Orte gebracht und häufig untersucht. Zunächst gelangte das ‚Steinkind von Leinzell’ für Ausstellungszwecke nach Stuttgart in die Kunstkammer von Herzog Eberhard Ludwig von Württemberg. Von dort wurde es 1732 nach Paris geschickt, um in der akademischen Gesellschaft für Chirurgie untersucht zu werden. Im Jahr 1853 wurde es nach Tübingen gebracht, an der dortigen Universität untersucht und dafür in zwei Hälften zersägt. Heute befindet sich das Objekt in der Medizinischen Sammlung der Universität Tübingen, nachdem es zuvor über Jahre in der Tübinger Frauenklinik ausgestellt war. Jedoch ist ein Teil des Präparats nicht mehr auffindbar.

Zeichnung von W. Kieser, ‚Steinkind von Leinzelll’, 1854. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2e/Steinkind_von_Leinzell.jpg

Das ‚Nebelsche Steinkind’ schließlich verblieb 54 Jahre im Körper seiner Mutter. Bei dieser handelte es sich um Susanne Stolberg (1675-1767), die mit einem Heidelberger Gymnasialprofessor verheiratet gewesen war. Aufgrund der Kontakte ihres Mannes wurde sie nach ihrem Tod von dem oben bereits genannten Daniel Wilhelm Nebel obduziert. Er entdeckte ein beinahe vollständig entwickeltes Kind und vermutete, dass dieses durch einen Riss der Gebärmutter in die Bauchhöhle von Stolberg gelangt war, wo es schließlich verstarb und mumifiziert wurde. Nebel präsentierte seine Ergebnisse 1770 in einem Aufsatz mit dem Titel „Foetus ossei per quinquaginta quatuor annos extra uterum in abdomine detenti historia“. Das ‚Nebelsche Steinkind’ wird heute im pathologischen Institut der Universität Heidelberg verwahrt.
Während im Verlauf von weniger als 200 Jahren drei Fälle von ‚Steinkindern’ intensiv sowohl schriftlich als auch bildlich dokumentiert und diskutiert wurden, sind heute aufgrund von medizinischen Fortschritten solche Ereignisse kaum noch vorstellbar. Gleichzeitig steigt somit der Wert der noch existierenden Präparate von Lithopädia und ihre Bedeutung für die Forschung. 

Zum Weiterlesen:
Bondeson, Jan: The Earliest Known Case of a Lithopaedion, in: Journal of the Royal Society of Medicine 89 (1996), S. 13-18.
Bondeson, Jan: The Two-Headed Boy and Other Medical Marvels, Ithaca u. London 2004.
Kieser, Wilhelm: Das Steinkind von Leinzell, Stuttgart 1854.
Online unter:

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