Die Angelsachsen. Keine andere
Bevölkerungsgruppe hat England ihren Stempel so aufgedrückt wie sie. Im
englischen Sprachgebrauch ist es sogar heute noch üblich, von den Bewohnern der
gesamten englischsprachigen Welt als den „Anglo-Saxons“ zu reden. Wer genau diese
Angelsachsen aber waren, die an der Wende der Antike zum Mittelalter die
britische Insel stürmten, darüber ist tatsächlich nur wenig bekannt. Das
Problem ist folgendes: Mit dem Abzug der römischen Truppen aus Britannien
nehmen – wie auch auf dem Kontinent – die schriftlichen Quellen massiv ab.
Genau zu bestimmen, wer da auf die britische Insel kam, ist schwierig. Die
Völker, über die wir hier reden wollen, wussten es ja nicht mal selbst! Wir sprechen
schließlich über eine Zeit, in der sich in Europa viel bewegte – im ganz wörtlichen
Sinne. Damals wanderten auf dem Kontinent zahllose kleinere und größere Gruppen
von Angeln, Sachsen, vor allem aber Goten, Langobarden, Franken und anderen
umher. Einige dieser Gruppen schafften es offensichtlich auch auf die britische
Insel. Und sie sollten sie für immer verwandeln.
Anglo-Saxon king with his witan, in: Illustrated Old English Hexateuch (11th century) https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/e4/Witan_hexateuch.jpg |
Genau diese Verwandlung soll im Mittelpunkt
dieses Artikels stehen. Ich möchte die Migration der Angeln, Sachsen und anderer
Bevölkerungsgruppen nach Britannien nachzeichnen, wie sie ab dem frühen 5.
Jahrhundert stattgefunden hat. Wodurch waren diese Migrationsbewegungen bedingt,
wie gelangten diese Siedler auf die Insel und wie können wir erklären, dass die
Neuankömmlinge nur knappe hundert Jahre später bereits weite Teile Britanniens
unter ihrer Kontrolle hatten?
Der
Abstieg Roms und seine Auswirkungen auf Britannien
Der bestimmende Faktor war im Europa der
Zeit nach wie vor die Großmacht Rom. Doch bereits seit dem 4. Jahrhundert, wenn
nicht schon früher, büßte diese Großmacht zunehmend an Stärke ein. Es sprachen
sich mit der Zeit immer wieder konkurrierende Kaiser gegenseitig die Autorität ab,
während sich Einfälle von außen in das römische Reichsgebiet häuften. Die
römischen Machthaber waren in Folge immer öfter gezwungen, „Barbaren“ von
jenseits der Reichsgrenzen anzuheuern, um in den Grenzgebieten für Sicherheit
zu sorgen. Diese Söldner wurden Foederaten genannt und es gab sie bald an fast
allen Außengrenzen des Römischen Reiches.
Die meisten Historikerinnen und Historiker
gehen davon aus, dass sich diese Geschichte in einer ähnlichen Form auch in der
römischen Provinz Britannien abgespielt hat. Ab dem 5. Jahrhundert dürften
dort die ersten Foederaten, eben die später als Angelsachsen bekannten Gruppen,
gelandet sein, um die örtlichen Siedlungen zu verteidigen. Leider hilft uns
diese Erkenntnis aber nicht dabei, genauer zu definieren, wo diese Gruppen herkamen.
Wie uns ihr späterer Name verrät, dürfte es sich zu einem großen Teil
tatsächlich um Angeln und Sachsen gehandelt haben. Sächsische Stämme waren der
keltischen und römischen Bevölkerung Britanniens damals durchaus bekannt, da einige
von ihnen seit längerem als Piraten auf dem Ärmelkanal ihr Unwesen trieben. Als
eines der relativ großen germanischen Völker der Zeit besiedelten sie in jenen
Jahren das heutige Niedersachsen und Teile Westfalens. Die Angeln hingegen
kamen wahrscheinlich aus dem heutigen Schleswig. Dort gibt es auch immer noch
eine Landschaft namens Angeln, zwischen Kiel und Flensburg gelegen.
Die Angeln und Sachsen waren aber mit großer
Sicherheit nicht die einzigen, die im frühen Mittelalter nach Britannien kamen.
Die Situation auf dem europäischen Kontinent war während der Völkerwanderung ausgesprochen
unsicher. Da mag eine Stelle als Foederat im scheinbar behaglichen Britannien
attraktiv gewesen sein. Einige Verbände an Friesen waren mit großer
Wahrscheinlichkeit auch unter den Einwanderern. So gibt es in Kent in
Südostengland noch immer einen Ort namens Freezingham. Letztendlich ist auch
möglich, dass Jüten aus dem heutigen deutsch-dänischen Grenzgebiet unter den
Siedlern waren, was jedoch nicht belegt ist. Immer wieder wurde ebenso
behauptet, Franken seien unter den Foederaten gewesen, aber auch dafür gibt es keine
Belege.
Die
Anwerbung der Foederaten
Die Angeln, Sachsen, Friesen und sonstigen
Gruppen waren nun sicher nicht die umgänglichsten Zeitgenossen. Ganz
uneingeladen kamen sie aber trotzdem nicht nach Britannien. Sie wurden
angeheuert, und so ist klar, dass es einen Auftraggeber geben musste. Das waren
in Britannien aber, anders als auf dem Kontinent, nicht mehr die Römer selbst,
sondern keltische Herrscher. Denn für diese begann das Dilemma schon einige
Zeit vor dem Untergang des Römischen Reichs. Bereits in den ersten Jahren des
5. Jahrhunderts hatte Kaiser Honorius (395-423) alle römischen Legionen
aus Britannien abziehen lassen, um andere Teile des Reichs zu verteidigen.
In Britannien kam es infolge des daraus
resultierenden Machtvakuums immer häufiger zu Einfällen von außen. Insbesondere
die altbekannten „Wilden“ aus dem Norden – die Pikten und Skoten aus dem
heutigen Schottland – stellten eine dauernde Gefahr dar. Mit dem Abzug der
römischen Truppen wurde die Sache für die verbliebenen britischen Kelten schnell
gefährlich, da sie auf diese Gefahr auf sich allein gestellt nicht vorbereitet waren.
Die städtische Bevölkerung war inzwischen an das Leben im Römischen Reich
angepasst. Die Städte waren nach römischem Vorbild gestaltet, mit römischen
Landstraßen untereinander verbunden, und die Hafenstädte waren auf den Handel
mit Rom und anderen Provinzen ausgerichtet. Obendrein kam aus Rom auch Geld ins
Land! Dass dieses System ohne das römische Zentrum an seiner Spitze nicht mehr
sonderlich funktionierte, ist da wenig überraschend.
In den Städten
Britanniens übernahmen schließlich keltische Herrscher die Kontrolle und
versuchten so gut es eben ging, ihr gewohntes Leben weiterzuführen. Sie behielten
die römische Verwaltung bei und bewahrten sogar vielerorts die christlichen
Gemeinschaften. Bei ihrem größten Problem, der Verteidigung, kamen einige
dieser Herrscher im Laufe des 5. Jahrhunderts wohl auf die alles entscheidende
Idee: Sie heuerten Foederaten an. Wie genau das in der Folgezeit ablief, wissen
wir leider nicht. Erst etwa hundert Jahre später setzen die Quellen langsam
wieder ein und die Geschichte der Kelten und der von ihnen angeheuerten Angelsachsen
wird erneut greifbar. Zu dem Zeitpunkt waren bereits weite Teile Südenglands, vor
allem die Region entlang der Themse, vollkommen von den Neuankömmlingen
kontrolliert – vielerorts keine Spur mehr von keltischen Fürsten. Da stellt
sich die Frage: Wie konnte es zu einer solchen Dominanz innerhalb so kurzer
Zeit kommen?
Wie
kann man den Aufstieg der Angelsachsen erklären?
Das Dilemma bei der Beantwortung dieser
Frage ist, dass wir nichts Genaues über die Ausgangssituation wissen. Es ist
schwer zu sagen, um wie viele Menschen es sich bei den übergesiedelten
Angelsachsen überhaupt handelte. Bezüglich des Zeitraums ihrer Migration wissen
wir aber etwas mehr. Wir können davon ausgehen, dass die Migration mit dem
Abzug Roms um das Jahr 410 begann und sich im Laufe des 5. Jahrhunderts mit der
sich verschlechternden Sicherheitslage in Britannien beschleunigte. Die Söldner
trafen dort wohl desolate Zustände an. Die Herrschaftsgebiete der lokalen
Warlords, die hier als Auftraggeber in Erscheinung traten, umfassten meist nur
kleinste Räume, oft nicht mehr als einige isolierte Städte. Außerhalb der
Städte war der römische Lebensstil bald komplett verschwunden, sollte er denn
jemals richtig Fuß gefasst haben.
Dass die Krieger vom Kontinent ein solches
Machtvakuum ausnutzen wollten, ist nun nicht ganz unverständlich. Und die
Tatsache, dass man im heutigen England kaum noch etwas von seiner romano-keltischen
Geschichte erfährt, gibt uns einen guten Hinweis darauf, dass die Angelsachsen
die älteren Einwohner schon sehr schnell an kultureller Bedeutung übertrafen. Starke
persönliche Kontakte oder verbreitete Mischehen mit der alteingesessenen
Bevölkerung gab es dabei aber wohl nicht. Die Angelsachsen reisten in
Kleinstgruppen oder als Stammesgefolge nach Britannien und siedelten sich in
der Nähe der Orte an, die sie beschützen sollten. Dabei waren sie räumlich klar
von der keltischen Bevölkerung getrennt. Sie hatten aber auch untereinander
nicht viel gemein und fühlten sich bei ihrer Ankunft sicherlich nicht als
„Angelsachsen“. Sie blieben auch in ihrer neuen Heimat unter sich und teilten
sich im Land letzten Endes sogar geografisch auf. Sächsische Stämme und Gruppen
heuerten vor allem in Südengland an, in all den Gegenden, die später mit der
Endung ‑sex versehen wurden. Weiter nördlich und östlich siedelten die
Angeln. Hinweise auf sie sind noch im Namen East Anglia und natürlich im Wort England
zu erkennen.
Der Aufstieg der Neuankömmlinge begann,
als die ersten Anführer der Foederaten-Stämme wohlhabend und mächtig genug
wurden, sich gegen ihre bisherigen Auftraggeber zu wenden. Aus diesen
erfolgreichen Aufständen, die sich quer über das heutige England hinweg
wiederholten, bildeten sich in Folge die ersten größeren angelsächsischen
Gesellschaften heraus. Die keltische Kultur scheint dabei auf der Strecke
geblieben zu sein, während sich die angelsächsischen Gemeinschaften zu
Königreichen weiterentwickelten; ein Prozess, der spätestens mit Ende des 6.
Jahrhundert abgeschlossen war. Schon ein paar hundert Jahre später spielten die
Unterschiede – Sachsen oder Angeln – schließlich gar keine Rolle mehr. Die
Neuankömmlinge wuchsen zu einer mehr oder weniger einheitlichen Bevölkerung
zusammen. So einheitlich, wie Menschen aus Manchester und Canterbury eben heute
noch sind.
*Dieser Artikel stammt von Gastautor Ralf Grabuschnig. Ralf ist Historiker und Autor
und betreibt den Geschichte-Blog und Podcast „Déjà-vu“, auf dem er wöchentlich
spannende Episoden aus der Geschichte erzählt – immer mit Blick auf das Hier
und Jetzt und mit einer gesunden Portion Augenzwinkern. Dieser Artikel basiert
auf seinem neuen Buch "Endstation Brexit". In insgesamt neun lustig erzählten Episoden aus der
Geschichte zeigt er darin: England und Europa kamen sich schon immer in die
Haare, nur um sich wieder in die Arme zu fallen. Der Brexit soll sich mal nicht
so aufspielen.
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