Sonntag, 15. Juli 2018

Die Geschichte, wie die Angelsachsen nach England kamen*


Die Angelsachsen. Keine andere Bevölkerungsgruppe hat England ihren Stempel so aufgedrückt wie sie. Im englischen Sprachgebrauch ist es sogar heute noch üblich, von den Bewohnern der gesamten englischsprachigen Welt als den „Anglo-Saxons“ zu reden. Wer genau diese Angelsachsen aber waren, die an der Wende der Antike zum Mittelalter die britische Insel stürmten, darüber ist tatsächlich nur wenig bekannt. Das Problem ist folgendes: Mit dem Abzug der römischen Truppen aus Britannien nehmen – wie auch auf dem Kontinent – die schriftlichen Quellen massiv ab. Genau zu bestimmen, wer da auf die britische Insel kam, ist schwierig. Die Völker, über die wir hier reden wollen, wussten es ja nicht mal selbst! Wir sprechen schließlich über eine Zeit, in der sich in Europa viel bewegte – im ganz wörtlichen Sinne. Damals wanderten auf dem Kontinent zahllose kleinere und größere Gruppen von Angeln, Sachsen, vor allem aber Goten, Langobarden, Franken und anderen umher. Einige dieser Gruppen schafften es offensichtlich auch auf die britische Insel. Und sie sollten sie für immer verwandeln.

Anglo-Saxon king with his witan, in: Illustrated Old English Hexateuch (11th century)
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/e4/Witan_hexateuch.jpg


Genau diese Verwandlung soll im Mittelpunkt dieses Artikels stehen. Ich möchte die Migration der Angeln, Sachsen und anderer Bevölkerungsgruppen nach Britannien nachzeichnen, wie sie ab dem frühen 5. Jahrhundert stattgefunden hat. Wodurch waren diese Migrationsbewegungen bedingt, wie gelangten diese Siedler auf die Insel und wie können wir erklären, dass die Neuankömmlinge nur knappe hundert Jahre später bereits weite Teile Britanniens unter ihrer Kontrolle hatten?

Der Abstieg Roms und seine Auswirkungen auf Britannien

Der bestimmende Faktor war im Europa der Zeit nach wie vor die Großmacht Rom. Doch bereits seit dem 4. Jahrhundert, wenn nicht schon früher, büßte diese Großmacht zunehmend an Stärke ein. Es sprachen sich mit der Zeit immer wieder konkurrierende Kaiser gegenseitig die Autorität ab, während sich Einfälle von außen in das römische Reichsgebiet häuften. Die römischen Machthaber waren in Folge immer öfter gezwungen, „Barbaren“ von jenseits der Reichsgrenzen anzuheuern, um in den Grenzgebieten für Sicherheit zu sorgen. Diese Söldner wurden Foederaten genannt und es gab sie bald an fast allen Außengrenzen des Römischen Reiches.

Die meisten Historikerinnen und Historiker gehen davon aus, dass sich diese Geschichte in einer ähnlichen Form auch in der römischen Provinz Britannien abgespielt hat. Ab dem 5. Jahrhundert dürften dort die ersten Foederaten, eben die später als Angelsachsen bekannten Gruppen, gelandet sein, um die örtlichen Siedlungen zu verteidigen. Leider hilft uns diese Erkenntnis aber nicht dabei, genauer zu definieren, wo diese Gruppen herkamen. Wie uns ihr späterer Name verrät, dürfte es sich zu einem großen Teil tatsächlich um Angeln und Sachsen gehandelt haben. Sächsische Stämme waren der keltischen und römischen Bevölkerung Britanniens damals durchaus bekannt, da einige von ihnen seit längerem als Piraten auf dem Ärmelkanal ihr Unwesen trieben. Als eines der relativ großen germanischen Völker der Zeit besiedelten sie in jenen Jahren das heutige Niedersachsen und Teile Westfalens. Die Angeln hingegen kamen wahrscheinlich aus dem heutigen Schleswig. Dort gibt es auch immer noch eine Landschaft namens Angeln, zwischen Kiel und Flensburg gelegen.

Die Angeln und Sachsen waren aber mit großer Sicherheit nicht die einzigen, die im frühen Mittelalter nach Britannien kamen. Die Situation auf dem europäischen Kontinent war während der Völkerwanderung ausgesprochen unsicher. Da mag eine Stelle als Foederat im scheinbar behaglichen Britannien attraktiv gewesen sein. Einige Verbände an Friesen waren mit großer Wahrscheinlichkeit auch unter den Einwanderern. So gibt es in Kent in Südostengland noch immer einen Ort namens Freezingham. Letztendlich ist auch möglich, dass Jüten aus dem heutigen deutsch-dänischen Grenzgebiet unter den Siedlern waren, was jedoch nicht belegt ist. Immer wieder wurde ebenso behauptet, Franken seien unter den Foederaten gewesen, aber auch dafür gibt es keine Belege.

Die Anwerbung der Foederaten

Die Angeln, Sachsen, Friesen und sonstigen Gruppen waren nun sicher nicht die umgänglichsten Zeitgenossen. Ganz uneingeladen kamen sie aber trotzdem nicht nach Britannien. Sie wurden angeheuert, und so ist klar, dass es einen Auftraggeber geben musste. Das waren in Britannien aber, anders als auf dem Kontinent, nicht mehr die Römer selbst, sondern keltische Herrscher. Denn für diese begann das Dilemma schon einige Zeit vor dem Untergang des Römischen Reichs. Bereits in den ersten Jahren des 5. Jahrhunderts hatte Kaiser Honorius (395-423) alle römischen Legionen aus Britannien abziehen lassen, um andere Teile des Reichs zu verteidigen.

In Britannien kam es infolge des daraus resultierenden Machtvakuums immer häufiger zu Einfällen von außen. Insbesondere die altbekannten „Wilden“ aus dem Norden – die Pikten und Skoten aus dem heutigen Schottland – stellten eine dauernde Gefahr dar. Mit dem Abzug der römischen Truppen wurde die Sache für die verbliebenen britischen Kelten schnell gefährlich, da sie auf diese Gefahr auf sich allein gestellt nicht vorbereitet waren. Die städtische Bevölkerung war inzwischen an das Leben im Römischen Reich angepasst. Die Städte waren nach römischem Vorbild gestaltet, mit römischen Landstraßen untereinander verbunden, und die Hafenstädte waren auf den Handel mit Rom und anderen Provinzen ausgerichtet. Obendrein kam aus Rom auch Geld ins Land! Dass dieses System ohne das römische Zentrum an seiner Spitze nicht mehr sonderlich funktionierte, ist da wenig überraschend.

In den Städten Britanniens übernahmen schließlich keltische Herrscher die Kontrolle und versuchten so gut es eben ging, ihr gewohntes Leben weiterzuführen. Sie behielten die römische Verwaltung bei und bewahrten sogar vielerorts die christlichen Gemeinschaften. Bei ihrem größten Problem, der Verteidigung, kamen einige dieser Herrscher im Laufe des 5. Jahrhunderts wohl auf die alles entscheidende Idee: Sie heuerten Foederaten an. Wie genau das in der Folgezeit ablief, wissen wir leider nicht. Erst etwa hundert Jahre später setzen die Quellen langsam wieder ein und die Geschichte der Kelten und der von ihnen angeheuerten Angelsachsen wird erneut greifbar. Zu dem Zeitpunkt waren bereits weite Teile Südenglands, vor allem die Region entlang der Themse, vollkommen von den Neuankömmlingen kontrolliert – vielerorts keine Spur mehr von keltischen Fürsten. Da stellt sich die Frage: Wie konnte es zu einer solchen Dominanz innerhalb so kurzer Zeit kommen?

Wie kann man den Aufstieg der Angelsachsen erklären?

Das Dilemma bei der Beantwortung dieser Frage ist, dass wir nichts Genaues über die Ausgangssituation wissen. Es ist schwer zu sagen, um wie viele Menschen es sich bei den übergesiedelten Angelsachsen überhaupt handelte. Bezüglich des Zeitraums ihrer Migration wissen wir aber etwas mehr. Wir können davon ausgehen, dass die Migration mit dem Abzug Roms um das Jahr 410 begann und sich im Laufe des 5. Jahrhunderts mit der sich verschlechternden Sicherheitslage in Britannien beschleunigte. Die Söldner trafen dort wohl desolate Zustände an. Die Herrschaftsgebiete der lokalen Warlords, die hier als Auftraggeber in Erscheinung traten, umfassten meist nur kleinste Räume, oft nicht mehr als einige isolierte Städte. Außerhalb der Städte war der römische Lebensstil bald komplett verschwunden, sollte er denn jemals richtig Fuß gefasst haben.

Dass die Krieger vom Kontinent ein solches Machtvakuum ausnutzen wollten, ist nun nicht ganz unverständlich. Und die Tatsache, dass man im heutigen England kaum noch etwas von seiner romano-keltischen Geschichte erfährt, gibt uns einen guten Hinweis darauf, dass die Angelsachsen die älteren Einwohner schon sehr schnell an kultureller Bedeutung übertrafen. Starke persönliche Kontakte oder verbreitete Mischehen mit der alteingesessenen Bevölkerung gab es dabei aber wohl nicht. Die Angelsachsen reisten in Kleinstgruppen oder als Stammesgefolge nach Britannien und siedelten sich in der Nähe der Orte an, die sie beschützen sollten. Dabei waren sie räumlich klar von der keltischen Bevölkerung getrennt. Sie hatten aber auch untereinander nicht viel gemein und fühlten sich bei ihrer Ankunft sicherlich nicht als „Angelsachsen“. Sie blieben auch in ihrer neuen Heimat unter sich und teilten sich im Land letzten Endes sogar geografisch auf. Sächsische Stämme und Gruppen heuerten vor allem in Südengland an, in all den Gegenden, die später mit der Endung ‑sex versehen wurden. Weiter nördlich und östlich siedelten die Angeln. Hinweise auf sie sind noch im Namen East Anglia und natürlich im Wort England zu erkennen.

Der Aufstieg der Neuankömmlinge begann, als die ersten Anführer der Foederaten-Stämme wohlhabend und mächtig genug wurden, sich gegen ihre bisherigen Auftraggeber zu wenden. Aus diesen erfolgreichen Aufständen, die sich quer über das heutige England hinweg wiederholten, bildeten sich in Folge die ersten größeren angelsächsischen Gesellschaften heraus. Die keltische Kultur scheint dabei auf der Strecke geblieben zu sein, während sich die angelsächsischen Gemeinschaften zu Königreichen weiterentwickelten; ein Prozess, der spätestens mit Ende des 6. Jahrhundert abgeschlossen war. Schon ein paar hundert Jahre später spielten die Unterschiede – Sachsen oder Angeln – schließlich gar keine Rolle mehr. Die Neuankömmlinge wuchsen zu einer mehr oder weniger einheitlichen Bevölkerung zusammen. So einheitlich, wie Menschen aus Manchester und Canterbury eben heute noch sind.

*Dieser Artikel stammt von Gastautor Ralf Grabuschnig. Ralf ist Historiker und Autor und betreibt den Geschichte-Blog und Podcast „Déjà-vu“, auf dem er wöchentlich spannende Episoden aus der Geschichte erzählt – immer mit Blick auf das Hier und Jetzt und mit einer gesunden Portion Augenzwinkern. Dieser Artikel basiert auf seinem neuen Buch "Endstation Brexit"In insgesamt neun lustig erzählten Episoden aus der Geschichte zeigt er darin: England und Europa kamen sich schon immer in die Haare, nur um sich wieder in die Arme zu fallen. Der Brexit soll sich mal nicht so aufspielen.

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