Sonntag, 31. Mai 2015

Die Jungfrau von Orléans III – Rezeption und politische Instrumentalisierung

Die ersten beiden Teile unserer kurz!-Reihe über die Jungfrau von Orléans (Teil I & Teil II) beschäftigten sich mit dem Aufstieg und den ersten Erfolgen Jeannes bis hin zu ihrer Gefangennahme und dem Ketzereiprozess, der schließlich mit ihrer Hinrichtung endete. Der bereits im zweiten Teil der Reihe betrachtete Revisionsprozess, in dem die Jungfrau vollständig rehabilitiert wurde, deutete schon das Potential zur politischen Instrumentalisierung ihrer Geschichte an: Charles VII. konnte es nicht dulden, seine Krone einer verurteilten Ketzerin zu verdanken. Er strebte den Freispruch Jeannes von allen Vorwürfen an, um seiner eigenen Position mehr Legitimität zu verleihen. Auch später blieb sie Gegenstand politischer Argumentationen und Vergleiche zugunsten unterschiedlicher Ziele und Haltungen. Darüber hinaus ist Jeanne in Kunst, Literatur und Film bis heute eine der am häufigsten rezipierten Gestalten des Mittelalters, deren Faszination ungebrochen scheint. Mit dieser reichen Rezeptionsgeschichte, vor allem in der Literatur, aber auch mit der politischen Instrumentalisierung Jeanne d’Arcs soll sich dieser Artikel beschäftigen.

Im ausgehenden Mittelalter und später im zunehmend absolutistischen Frankreich trat die Jungfrau von Orléans zunächst in den Hintergrund. Ihr göttlicher Auftrag, Charles VII. zu seiner Krönung nach Reims zu führen, diente späteren Königen bestenfalls als Mittel, um ihren eigenen Ruhm und ihre Stellung von Gottes Gnaden zu erhöhen. Erst unter Napoleon (1769-1821) wurde Jeanne d’Arc zu einem Baustein der nationalen Identität, was sich auch in den Jahrzehnten nach dessen Tod weiter verstärkte. Vor allem in der Zeit der Romantik (Ende 18. bis 19. Jahrhundert) wurde sie zunehmend zum Sinnbild des einfachen Volkes, wobei die Stoßrichtung hier überwiegend in Folge der Französischen Revolution von 1789 antimonarchisch war. So schrieb beispielsweise Théophile Lavallée in seiner Geschichte Frankreichs, die Mitte des 19. Jahrhunderts sehr populär war, Jeanne habe „im Volk das heilige Feuer entzündet“ und man könne ihre Geschichte kaum erzählen, „ohne sich empört aufzulehnen gegen […] jenen König, der sie im Stich ließ.“ (Zitiert nach: Krumeich, Gerd, Jeanne d’Arc, S. 114). Jeanne wurde also als Mädchen aus dem Volk gesehen, das zur Befreiung des Landes und zur Errichtung einer französischen Nation beigetragen hatte und das schließlich von den Mächtigen benutzt und verraten worden war. Sie wurde, wie Krumeich anmerkt, zur „Bannerträgerin des antiklerikalen Republikanismus“ (Krumeich, Gerd, Jeanne d’Arc, S. 116)

Neben der Identifikation republikanischer Kräfte mit Jeanne d’Arc entdeckten aber auch national und royal eingestellte Katholiken die Jungfrau für sich. Sie betonten ihren göttlichen Auftrag, den König zu seiner Salbung nach Reims zu führen und machten aus ihr eine „Dienerin des Königs“ und eine katholische Heldin, die sogar als Heilige infrage kam. Dies führte so weit, dass 1869 sogar ein formelles Heiligsprechungsgesuch an den Papst gerichtet wurde, woraufhin ein entsprechender Prozess eingeleitet wurde. Dieser endete 1920 mit der Kanonisierung der Jungfrau von Orléans, die als französische Nationalheilige, aber auch als Heilige der Telegrafie und des Rundfunks gilt. So rangen also vor allem seit der Mitte des 19. Jahrhundert Linke und Rechte in Frankreich um Johanna. Während des Ersten Weltkrieges (1914-1918) war sie in Medien und auf Plakaten beinahe omnipräsent, um die Soldaten zu Heldentaten zu beflügeln. 1921 wurde sogar ein Jeanne d’Arc-Feiertag am zweiten Sonntag im Mai eingeführt und auch der 8. Mai, der Jahrestag der Befreiung Orléans, wird bis heute in der Stadt gefeiert. 

Erst für die extremen Nationalisten der 1920er und 1930er Jahre wurde es schwer, Jeanne zu einem Sinnbild ihrer autoritären Ideologie umzuformen, da sie stets ihre Selbstbestimmtheit betont hatte und sich in permanenter Auseinandersetzung mit Machthabern befunden hatte. Nach der Niederlage Frankreichs gegen das Deutsche Reich unternahm Maréchal Pétain (1856-1951) einen Versuch, sie als Verkörperung von Tradition und Gehorsam zu verklären und gleichzeitig für den Antisemitismus zu instrumentalisieren. Dies stieß allerdings nicht auf die erhoffte Akzeptanz in der Bevölkerung. Eher noch blieb die Jungfrau ein Sinnbild der Résistance, die Frankreich von fremder Herrschaft befreien wollte, auch wenn die Erinnerung an sie vom Widerstand weniger systematisch betrieben wurde als vom Vichy-Regime unter Pétain. Für beide Seiten, so gegensätzlich ihre Ziele auch waren, diente die Jungfrau jedoch als nationale Integrationsfigur. 

Auch mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges (1939-1945) ging der Konflikt um die Deutungshoheit des Jeanne d’Arc-Mythos weiter. So wurde sie einerseits als Helferin beim Aufbau eines friedlichen und geeinten Europas in Betracht gezogen, aber auch als Bannerträgerin für die Entkolonialisierung der Dritten Welt und Befreierin unterdrückter Völker. Andererseits wurde Jeanne vor allem von extremen Rechten instrumentalisiert, um den Kampf für ein Frankreich frei von Fremden voranzutreiben. So begeht beispielsweise der rechtsextreme Front National, zunächst unter Jean-Marie Le Pen und inzwischen unter dessen Tochter Marine Le Pen, bis heute jährlich am 1. Mai einen Aufmarsch im Gedenken an Johanna und ihren Kampf gegen fremde Besatzer und nutzt sie zur Konstruktion einer nationalistisch-französischen Identität.









 

1. Mai-Kundgebung des Front National aus dem Jahr 2012. Die Vorsitzende Marine Le Pen präsentiert sich vor einem Jeanne d'Arc-Banner, http://www.liberation.fr/politiques/2012/05/01/marine-le-pen-dimanche-je-voterai-blanc_815492
 
Für die extreme Rechte in Frankreich ist die Jungfrau von Orléans eine Art „nationale Türsteherin, die heute nicht mehr die englischen Invasoren in Schach zu halten hat, sondern Frankreich unerbittlich gegenüber Einwanderern verteidigt“ (Himmel, Stephanie, Von der „bonne Lorraine“ zum globalen „magical girl“, S. 121). Vor allem durch diese starke Vereinnahmung durch den Front National gibt es heute für Jeanne d’Arc kaum noch einen anderen Platz im politischen Spektrum. 

Diese vielseitige Instrumentalisierung für unterschiedliche politische Zwecke und Ziele geht vor allem auf die Vielschichtigkeit des Mythos rund um Jeanne d’Arc zurück. So war sie einerseits treue Anhängerin des Königs und gläubige Christin, was sie zum Aushängeschild für katholische und monarchistische Strömungen werden ließ. Andererseits war sie als Mädchen aus dem Volk, das von König und Kirche verraten worden war, die ideale Identifikationsfigur für die Republikaner. Ihr Kampf gegen ausländische Besatzer und das damit einhergehende identitätsstiftende Moment machte sie schließlich zur Galionsfigur für die französische Rechte, die Jeanne heute politisch fast vollständig zu vereinnahmen scheint. Dennoch ist die Faszination für die Jungfrau von Orléans ungebrochen, was sich an der vielfältigen Rezeption zeigt.

So spielt Jeanne beispielsweise im ersten Teil von Shakespeares Drama Heinrich VI. (1589-1590) eine Rolle, wobei die Schilderungen hier nicht den historischen Tatsachen entsprechen. Auch Voltaire (1694-1778) griff den Stoff in seinem komischen, in manchen Versionen sogar pornographischen Gedicht La Pucelle d‘Orléans von 1762 auf, in dem er das „barbarische“ Mittelalter kritisierte und Jeanne d’Arc zu einem Objekt der korrupten Hofgesellschaft machte. Dem stand Friedrich Schillers Drama Die Jungfrau von Orléans entgegen, das den historischen Tatsachen zwar kaum gerecht wurde (beispielsweise stirbt Johanna auf dem Schlachtfeld und nicht auf dem Scheiterhaufen), in dem die Jungfrau aber als selbstständige Heldin und Patriotin auftritt. Auch Anfang des 20. Jahrhunderts hatte der Stoff in der Literatur noch Konjunktur: Für sein Drama Die heilige Johanna (1923), das auch mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, studierte George Bernard Shaw beispielsweise die Prozessakten und bemühte sich um die Verwendung möglichst vieler Originalzitate. Auch Bertold Brecht widmete sich dem Stoff gleich mehrfach (Die heilige Johanna der Schlachthöfe, Die Gesichter der Simone Marchand, Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rouen). Er weist vor allem auf das Problem von Herrschaft und Glauben aber auch von individuellem Protest und gesellschaftlichen Zwängen hin. 

Neben der literarischen Verwendung des Stoffes griffen auch Kunst, Musik und Film die Geschichte immer wieder auf und verarbeiteten sie vielfach, sodass die Jungfrau von Orléans heute beinahe jedem ein Begriff ist und zu den bekanntesten und am meisten rezipierten Gestalten des Mittelalters zählt. Die äußerst vielfältige und teilweise gegensätzliche Rezeption spiegelt, ähnlich wie auch bei der politischen Instrumentalisierung, die Vielschichtigkeit und Bandbreite der Geschichte und die damit verbundenen Identifikationsmöglichkeiten wider.

Zum Weiterlesen:
Krumeich, Gerd, Jeanne d’Arc. Die Geschichte der Jungfrau von Orleans, München 2006, 2. Auflage.
Himmel, Stephani, Von der "bonne Lorraine" zum globalem "magical girl". Die Mediale Inszenierung des Jeanne d'Arc-Mythos in populären Erinnerungskulturen (Formen der Erinnerung 28), Göttingen 2007.

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