Habt ihr euch schon einmal gefragt, warum es geregelte Sitzordnungen in allen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens gibt? Der Bundestagspräsident sitzt den Abgeordneten vorne in der Mitte und leicht erhöht gegenüber. Die Plätze der Abgeordneten im Bundestag sind ebenfalls nicht zufällig gewählt: Der Fraktionsvorsitzende jeder Partei sitzt in der ersten Reihe. Es gibt keine Partei, die ausschließlich hinter einer anderen sitzt. Das Brautpaar sitzt häufig am Kopf einer Tafel oder an einem separaten Tisch mit Blick auf alle Gäste. Bei den meisten Menschen gibt es zu Hause ebenfalls eine feste Sitzverteilung. Und in China sitzt der Gastgeber oder der Gast mit dem höchsten Status in der Mitte mit Blick nach Osten oder auf den Eingang. Die Form der Tische, ob rund oder lang, ist ebenfalls entscheidend: Runde Tische werden meist gewollt genutzt, um eine Gleichrangigkeit der Personen zu betonen; an länglichen Tischen kann eine Rangordnung dargestellt werden. Solche Beispiele von Sitzordnungen lassen sich endlos weiterführen.
Wo aber liegt der Ursprung dieses allgemein bekannten und manifestierten Rituals? Was genau macht ein Ritual eigentlich aus? Auf Basis welcher Grundregeln wird bestimmt, wer wo sitzen muss? Warum machen sich Personen Gedanken darüber, wo andere sitzen sollen und warum brechen Streitigkeiten der „sitzenden“ Personen untereinander aus? Dieser Artikel widmet sich der Beantwortung dieser Fragen und taucht zeitgleich ein in die Welt des Mittelalters, in der der Ursprung dieses Rituals begründet liegt und auf eine korrekte Sitzordnung noch weitaus mehr Wert gelegt wurde als heute.
Bereits in der Antike war der Begriff ‚Ritual‘ oder auch ‚Ritus‘ geläufig, wurde allerdings als Synonym für feierliche und religiöse Bräuche genutzt. Das ‚Ritual‘ des Mittelalters verstand sich als non-verbale Kommunikation, bei der ein System aus Zeichen, Symbolen und Verhaltensmustern dazu führte, dass der Stand, der Rang und das Verhältnis bzw. die Beziehung zu anderen Personen (re-)präsentiert wurde. Die Ausführung solcher Rituale, zu dem auch das Ritual des richtigen Sitzens gehörte, fand stets als Inszenierung vor einer großen Öffentlichkeit, meist bestehend aus Herrschafts- und Funktionsträgern sowie deren Vasallen, statt. Eine Inszenierung setzte indes immer voraus, dass vorher ebenjene unter den teilnehmenden Personen und Parteien abgesprochen wurde, sodass am Ende alle eine allgemeine Bereitschaft zur Teilnahme an einem Ritual äußerten und sich mit den getroffenen Entscheidungen einverstanden zeigten. Die Öffentlichkeit wirkte verpflichtend, das heißt, dass die Zuschauer das Ritual und das darin gezeigte Verhalten bezeugen und die Teilnehmer auf die Darstellung verpflichten konnten.
Das Sitzen selbst galt als ein Rechtsritual. Zahlreiche Bilder aus dem Mittelalter zeigen einen weltlichen oder geistlichen Herrscher in einer sitzenden Position. So wurde ein Herrschaftsanspruch auf einen bestimmten Bereich visuell demonstriert, denn es galt: Erst sobald der jeweilige Herrscher auf einem Thron saß, besaß er diesen und die dazugehörigen Gebiete, Regalien etc. auch. Die Inszenierung einer Inthronisation und das damit verbundene demonstrative Sitzen in der Öffentlichkeit war somit ein zentrales Instrument, um den eigentlich unsichtbaren Herrschaftsanspruch zu visualisieren. Die höhere Stellung des Herrschers wurde zudem dadurch sichtbar gemacht, dass untergeordnete Personen stets vor dem sitzenden Herrscher standen oder knieten.
Kaiser Heinrich VI. im Codex Manesse / Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/cb/Kaiser_Heinrich_VI._im_Codex_Manesse.jpg |
Berengar II. von Ivrea leistet Otto I. kniend den Treueeid / Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/11/Otto_I_Manuscriptum_Mediolanense_c_1200.jpg |
Das Ritual des richtigen Sitzens kam jedoch vor allem innerhalb von Gruppen bei öffentlichen Anlässen zur Geltung. Zunächst galt und gilt auch heute grundsätzlich noch: Wer sich setzen darf, wird schließlich in eine Gruppe oder Gemeinschaft integriert. Der „Sitz im Bundestag“ drückt beispielsweise heute eine solche Zugehörigkeit aus. Wer innerhalb dieser Gruppe wo sitzen durfte, war allerdings nicht willkürlich. Eine vorher durch Kriterien und Gespräche festgelegte oder aber eine – allerdings erst im Spätmittelalter auftretendende – als Regel niedergeschriebene Sitzordnung sorgte für klare Bestimmungen. Da solche Versammlungen in erster Linie in der Öffentlichkeit abgehalten wurden, demonstrierte die Sitzordnung für die Außenstehenden gleichermaßen ein Abbild der Rangordnung innerhalb dieser Gruppe. Das heißt also, dass das Sitzen in einer bestimmten Ordnung ein zentrales Ausdrucksmittel für den Rang und Herrschaftsanspruch der einzelnen Personen darstellte und gleichzeitig die real herrschenden Machtverhältnisse ausdrückte. Für eine solche Sitzordnung galt: Die wichtigste Person hatte meistens den Sitz in der Mitte, ganz vorne und erhöht. Wer oben oder vorne saß, hatte einen höheren Rang inne als diejenigen, die unten oder hinten saßen, und wer rechts von der zentralen Person sitzen durfte, war höher als die linkssitzende Person gestellt. Auch die Person, die der zentralen Person gegenüber sitzen durfte, hatte eine hohe Stellung innerhalb der Gruppe – sie war neben der rechts vom Herrscher sitzenden Person die höchstrangige. Welche Kriterien entschieden aber über den Rang einer Person und damit über dessen Platz in der Sitzordnung? Geistliche Würdenträger waren stets höher gestellt als weltliche. Darüber hinaus entschieden die Tradition/Gewohnheit, das Alter und die Jurisdiktion, also die örtliche Zuständigkeit, über den Sitz der einzelnen Personen.
Obwohl die Sitzordnung vorher mit Hilfe der Kriterien festgelegt wurde, kam es aber immer wieder zu Streitigkeiten. Im Goslarer Rangstreit von 1062/63 entstanden zunächst Auseinandersetzungen, weil die teilnehmenden Personen die Kriterien Gewohnheit/Tradition und Jurisdiktion unterschiedlich gewichteten. Anschließend zog sich dieser Streit in die nächsten Monate und fand seinen Höhepunkt schließlich in einer Rangherausforderung, die erst mit kriegerischen Mitteln gelöst werden konnte.
„Der Anlass aber war folgender: es war seit vielen Generationen Brauch [consuetudo erat] im Reich, dass bei einer Versammlung von Bischöfen stets der Abt von Fulda unmittelbar neben [proximus] dem Erzbischof von Mainz saß. Der Bischof aber machte geltend, dass ihm innerhalb seiner Diözese niemand nach dem Erzbischof vorgezogen werden dürfe […].“ (Die Annalen des Lampert von Hersfeld, Kap. 81.)
Solche Streitigkeiten um den Rang und damit die Sitzordnung fanden nicht selten statt. Dabei kam es zu absichtlichen und geplanten Sitzplatzherausforderungen, aber eben auch zu Diskussionen aufgrund unterschiedlicher Positionen. Die ständigen Auseinandersetzungen zwischen den drei wichtigsten Erzbischöfen aus Mainz, Köln und Trier erforderten letztlich sogar eine niedergeschriebene Regelung, die 1356 in der Goldenen Bulle Karls IV. festgehalten wurde. Dort heißt es im dritten Kapitel:
„Darum / damit unter den Ehrwürdigen Ertz-Bischöffen zu Mayntz / Cölln und Trier / des Heil. Reichs Chur-Fürsten / alle Krieg und Argwohn / die von Würdigkeit wegen ihrer Sitz in Kayserl. oder Königl. Höfen unter ihnen entstehen mögten / fürtan zukünfftigen Zeiten abgeschnitten werden / […] daß die vorgenante Ehrwürdige Ertz-Bischöffe / nehmlich der von Trier / gerichts gegen eines Kaysers Angesicht über: der von Mayntz aber / in seinem Bißthum und Provintzen auch ausserhalb seiner Provintz in allem seinem Teutschen Cancellariat, allein des von Cölln Provintz ausgenommenSitz derer Geistlichen Chur-Fürsten: Und zuletzt der Bischoff von Cölln / in seinem Bißthum und Provintzen auch ausserhalb der Provintzen in gantzen Welschen Landen / Italien und Gallien / an der Rechten Seyten eines Römischen Kaysers sitzen mögen / und sollen / in allen offentlichen Kayserl. Sachen / es sey an Gerichten / in Verleihung der Lehen / zu Tisch / in Berathschlagung / auch in allen andern Sachen / da man von Kayserl. Ehren und Nutz wegen zu handeln / also zusammen kommen. Und diese Weiß der Sitzuung wollen Wir mit aller Ordnung / wie zu vor begriffen ist / von der ehegenandten des von Cölln / Trier und Mayntz / Ertz-Bischöffen / auch gegen ihre Nachkommen ewiglich zu halten erstreckt haben / daß hinfüro zu keiner Zeit Zweifel und Irrungen deswegen entstehen mögen.“
Kurz zusammengefasst wurde hier eine Regelung getroffen, die personenunabhängig für die jeweiligen erzbischöflichen Amtsinhaber aus Mainz, Köln und Trier galt und auch in Zukunft gelten sollte. Dabei erhielt der Trierer Erzbischof den Sitz gegenüber vom Kaiser, der Mainzer und Kölner Erzbischof in deren jeweiliger Diözese und Kirchenprovinz den Sitz rechts vom Kaiser.
Diese kurze Reise ins Mittelalter hat die Signifikanz der Sitzordnung im Mittelalter offen gelegt und gezeigt, dass sie von zentraler Bedeutung war, um die Herrschafts- und Rangansprüche zu visualisieren und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Darüber hinaus deckte die Sitzordnung die sonst meist im Verborgenen liegende Machtverteilung innerhalb einer Gruppe auf. Auch wenn es für uns heutzutage Gewohnheit ist, wie sitzende Personen in Versammlungen, etc. angeordnet sind, werden dennoch Machtverteilungen und –ansprüche durch Sitzordnungen weiterhin offen dargelegt. Wenn ihr also das nächste Mal eine öffentliche Versammlung seht oder daran teilnehmt, dann achtet doch einfach mal darauf, wer wo sitzt und ob dies reiner Zufall sein kann!?
Zum Weiterlesen:
Ein weiterer Streit um eine Sitzordnung aus dem Jahr 1184 wurde hier schön aufbereitet: http://www.swr.de/geschichte-des-suedwestens/zeitstrahl/1184__mainzer-hoftag/-/id=15448514/did=15984434/nid=15448514/4z4qqo/index.html
Ein weiterer Streit um eine Sitzordnung aus dem Jahr 1184 wurde hier schön aufbereitet: http://www.swr.de/geschichte-des-suedwestens/zeitstrahl/1184__mainzer-hoftag/-/id=15448514/did=15984434/nid=15448514/4z4qqo/index.html
Gerd ALTHOFF, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2013.
Bernd SCHNEIDMÜLLER, Inszenierungen und Rituale des spätmittelalterlichen Reichs. Die Goldene Bulle von 1356 in westeuropäischen Vergleichen, in: Hohensee, Ulrike u.a. (Hgg.): Die Goldene Bulle. Politik – Wahrnehmung – Rezeption 1, Berlin 2009, S. 261-297.
Die Goldene Bulle von 1356: https://de.wikisource.org/wiki/Goldene_Bulle_%28Neuhochdeutsche_%C3%9Cbersetzung,_1713%29 (Neuhochdeutsche Übersetzung)
Sehr informativer und gut verständlicher Artikel. :)
AntwortenLöschenGalten diese öffentlichen Inszenierungen, bei der eine solche Sitzordnung präsentiert wurde, ausschließlich für Kaiser/Könige?
Danke für das Lob. ;) Freut uns sehr, dass dir der Artikel gefällt.
LöschenDiese Inszenierungen fanden immer dann statt, wenn die Machtverhältnisse nach außen hin gezeigt werden sollten. In den meisten Fällen sind es tatsächlich kaiserliche/königliche Hoftage oder andere einberufene Versammlungen, die überliefert worden sind. Darüber hinaus gab es solche Sitzordnungen beispielsweise auch bei Synoden und ebenso bei kleineren, regionalen Versammlungen. Letztere sind allerdings kaum überliefert, weil sie für das Reich kaum eine Rolle spielten.
Hallo :) Eine Frage: habt ihr vielleicht Quellen für mich zum Thema Sitzordnung in der mittelalterlichen Rechtssprechung? Also wo sitzen die Schöffen, der Richter, etc ...?
AntwortenLöschenHallo Christa. Leider sind uns solche Quellen bisher nicht über den Weg gelaufen. In der Literatur habe ich auch noch nichts dazu gelesen.
LöschenIch würde aber vermuten, ohne es wirklich zu wissen, dass die Sitzordnung während der Rechtssprechung durch den Kaiser/König ähnlich aussah wie heute, d.h. der Kaiser/König als Richter saß vorne und zentral vor allen anderen. Es wäre auch zu vermuten, dass die heutige Sitzordnung im Gericht zumindest in Teilen auf der mittelalterlichen basiert.
Vielleicht kann ein anderer Leser noch weiterhelfen?! :)
Hallo :-) richtig guter Artikel für den Einstieg in meine Hausarbeit :-)
AntwortenLöschenDeine "alte" Tutoriumsteilnehmerin an der RUB, jetzt auch in HD ;-)
Yasmin
Freut mich, dass ich dir einen guten Einstieg liefern konnte. :)
LöschenLiebe Grüße